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Bei Weltuntergang ab in den Garten

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr zum 1. November 2022

Wie gut, dass die beiden Kumpels Ingo und Jupp nicht mehr die aktuellen Nachrichten in geballter Form mitbekommen. Das Ost-West-Gefüge der Welt gerät ins Wanken, China und Indien wollen mitspielen. Europa muss sich mit unfreundlichen Mitgliedern in Ungarn und Italien herumschlagen. Die Ampel-Koalition gerät zunehmend ins Schlingern.

Die Krisen halten sich nicht an einer beherrschbaren Reihenfolge, sondern kommen gleichzeitig: aus Russland, Ukraine, China, Taiwan, Afrika, Syrien und von Politikern wie Meloni, Trump, Bolsonaro, Erdogan, Orban, dazu noch lauernde Unholde wie Inflation, Demo­grafie, Corona-Viren, Klimawandel und Cyberkriminalität. Das ist zu viel für einen nachdenklichen Menschen. Ingo hat ein Gegenmittel gefunden.

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Guten Morgen, Jupp. Wir geht es dir mit deinen Büchern? Liest dein Ex-Nachbar auch mit? Man sagt doch, alle guten Worte dieser Welt stehen in Büchern.

  • Ach Ingo, das mag ja sein. Abends bin ich einfach zu geschafft, um noch in die Bücher hineinzuschauen. Wir kommen durch die Bauarbeiten gar nicht mehr zum Lesen.

Das ist schade. Dabei könntest du dich spätabends wenigstens bei den wundervollen Dokumentationen von 3Sat und Arte weiterbilden und dabei entspannen. Ich zitiere mal Heinrich Heine: „Von allen Welten, die der Mensch erfunden hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.“ Dein Ex-Nachbar hätte doch eine bessere Welt kennenlernen können, als ihm in den Fake-News vorgegaukelt wird. Du solltest ihm aber möglichst keinen Zugang zu dystopischen SF-Romanen oder den Tagesprogrammen im Fernsehen ermöglichen, sonst dreht er noch weiter durch.

  • Oleksandr, so nenne ich ihn jetzt mit seinem ukrainischen Namen, den er sich bei der Flucht aus Schweden illegal zugelegt hat, ist auch ohne Lesen voll in seinem Element. Als erstes hat er mir im Keller ein Gästezimmer eingerichtet, demnächst kommt noch eine Dusche und Toilette hinzu.

Aha. Schön mit meterdicken Betonwänden, Dekontaminationsraum, Luftreinigungsanlage und explosionssicheren Stahltüren? Darf ich im Ernstfall dann auch mit rein?

  • Ach Ingo, natürlich lass ich dich nicht im Stich. Aber da musst du wohl erst noch ein paar Jahre warten. Der Ausbau zum Atombunker kommt erst später. Bei über 10 Prozent Inflation können wir uns das erforderliche Baumaterial einfach nicht leisten. Jetzt bauen wir erst mal meine Anliegerwohnung fertig. Das ist eine klare Win-Win-Situation. Olek hat im Winter eine warme Unterkunft und kommt vor lauter Arbeit nicht auf dumme Gedanken. Ich kann später meine Rente mit zusätzlichen Mieteinahmen aufstocken, und tue damit etwas Sinnvolles gegen die grassierende Wohnungsnot.

Was machst du denn mit deinem Olek, wenn der Kellerausbau fertig ist. Er müsste doch längst in Panik geraten sein, angesichts der aktuellen Bedrohungen durch Putins Atombomben. Jetzt ist sogar eine schmutzige Bombe im Gespräch.

  • Ja, das macht uns natürlich nachdenklich. Die Weltuntergangsuhr ist auf 100 Sekunden vor 12 gesprungen. Ach, du kennst nur die Schuldenuhr? Jährlich im Januar bestimmen führende Wissenschaftler die Gefahr, dass sich die Menschheit mit Atomwaffen oder dem Klimawandel selber auslöscht. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde die Uhr auf 17 Minuten vor Mitternacht zurückgestellt. Seitdem rückt sie der 12 immer näher. Für 2023 werden sie wohl schon die Einheit Millisekunden einführen müssen.

Die Schuldenuhr vom Bund der Steuerzahler ist auch schon alarmierend genug. Heute zeigt sie einen Schuldenberg von 2.461 Milliarden Euro mit einem Zuwachs von 11.240 Euro pro Sekunde an. Für jeden Bundesbürger bedeutet das 29.270 Euro pro Kopf. Das ist aber sicherlich nicht beunruhigend, denn laut Bundesbank besitzt jeder Haushalt ein Nettovermögen von 232.800 Euro. Das können wir ja locker stemmen, nicht wahr? Hast du dein zugehöriges Vermögen schon entdeckt, Jupp?

  • Ja ja, Ingo, du willst mich mit deiner Statistik für dumm verkaufen. Wenn ich die linke Hand in Eiswasser halte und die rechte in 70 Grad heißes Wasser, dann habe ich im Durchschnitt angenehme 35 Grad. Klar. Knapp 26.300 Deutschen verdienen jährlich mindestens 1 Million Euro. Und 1 Prozent der Haushalte sitzt auf 27 Prozent des deutschen Gesamtvermögens. 13,8 Millionen Menschen in Deutschland sind nach Angaben des Paritätischen Gesamtverbandes von Armut betroffen. So viele wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Fast jedes fünfte Kind wächst demnach in Armut auf. Die werden wohl kaum ihre 30.000 Euro Staatsschulden abbezahlen können. Und mit deinen Mittelwerten brauchst du mir erst gar nicht kommen.

Na ja, bei 10 Prozent Inflation schmilzt der Schuldenberg schon von allein. Aber mal zurück zum Weltuntergang, sei es durch Meteoriten-Einschlag, neue Pandemien, Atomkrieg oder Klimakatastrophe. Wie sieht denn jetzt eure Strategie aus, Oleks und deine?

  • Wir haben einen Kompromiss geschlossen, nachdem mich Olek in einigen Punkten überzeugt hat. Sieh mal, was so in letzter Zeit alles passiert: Stromausfälle, leere Regale in den Supermärkten, schlechte Ernten, neue Corona-Varianten, Energieknappheit, kaputte Verkehrsinfrastruktur, Personalmangel allerorten und zudem eine völlig überforderte Politik samt ihren Behörden. Aber eine wenigstens spricht es klar aus: das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Sie empfiehlt einen Notvorrat anzulegen: Essen und Trinken für 10 Tage, mindestens 20 Liter pro Person, Rezepte für Kochen ohne Strom sammeln, und vieles mehr.

Oh Jupp, ich seh‘ dich schon Feuerholz im Wald sammeln und anschließend mit deinem Olek um ein Lagerfeuer sitzen und einen erlegten Feldhasen verspeisen. Der Standort ist aber als Schutz gegen Bomben oder Meteoriten nicht gerade ideal.

  • Da gebe ich dir Recht, Ingo. Daher wird Olek demnächst in meinem Garten einen Erdbunker ausheben. Die Anleitung dazu hat er im Internet unter https://de.wikihow.com/Einen-Atombunker-bauen gefunden. Mit zwei Ausgängen und Toilette sogar, aber alles sehr preisgünstig. Da packe ich dann unsere Notrationen rein. Wenn du möchtest, kaufe ich eine Portion für dich mit ein. Oder du buddelst dir am besten selbst einen Gartenbunker. Vielleicht kann Olek dann noch einen Verbindungstunnel zu uns bauen.

Also, sag mal, Jupp – du willst wirklich deinen schönen Garten zerstören? Das kommt bei mir überhaupt nicht in Frage. Zwar werde ich meinen Garten bis zum Sommer umbauen, aber nicht so. Ich lese nämlich gerade ein Buch über Gartentherapie von Andreas Niepel. Du glaubst gar nicht, wen man mit einem therapeutischen Garten alles glücklich machen kann: Autisten, Demenzkranke, Depressive, Drogensüchtige, Strafgefangene, Blinde, körperlich und geistig Behinderte, Flüchtlinge – und natürlich Aussteiger mit Burnout wie mich. Da kann ich keinen Atombunker im Beet gebrauchen.

  • So schlimm steht es also schon mit dir, Ingo – du musst in eine Therapie. Wie lange soll die denn dauern? Und nur am Rande bemerkt: Betrachte mal die Vorteile. So ein Erdbunker ist auch ein energiefreier Kühlschrank und zusätzlicher Lagerraum. Dadurch werde ich eine Menge Stromkosten sparen.

Jupp, du hast mich missverstanden. Ich bin nicht krank und meine Lebensqualität ist gewaltig gestiegen, seitdem ich diesen überdrehten Nachrichtenmist nicht mehr an mich herankommen lasse. Mein Garten ist ein Ort der Geborgenheit, des Erinnerns und Erfreuens an der Schönheit der Pflanzen und der Welt der dort lebenden Tiere. Dazu werde ich auch Kräuter, Obst und Gemüse anpflanzen. Ich hole mir das biblische Paradies, den Garten Eden wieder zurück in mein Leben. Allerdings ohne Schlange und leider auch ohne meine verstorbene Eva.

  • Das hört sich ja gut an, Ingo. Vergiss nicht Kartoffeln anzubauen. Und Wein, und Reis und Mangos, wenn das Klima weiterhin so heiß wird. Belieferst du mich im Katastrophenfall dann auch mit frischen Lebensmitteln?

Aber natürlich, Jupp. Und ich gehe sogar noch weiter. Ich lade dich im Frühling zu Gartentherapiesitzungen bei mir ein, damit du deinen Bunkerkoller bekämpfen kannst. Und wenn er sich anständig benimmt, darf Olek auch mitkommen.

  • Mir kommt gerade eine neue Idee. Wenn Olek schon am Ausschachten ist, soll er daneben gleich noch einen kleinen Bierkeller anlegen. Wer weiß denn schon, ob beim Weltuntergang unsere Eckkneipe noch geöffnet hat.

Na dann Prost – auf dass die Apokalypse noch lange auf sich warten lässt.

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Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge,
so würde ich doch heute mein Apfelbäumchen pflanzen.
(Martin Luther (1483-1546), dt. Reformator)

So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist so weit.
(Hoimar von Ditfurth (1921-89), dt. Wissenschaftspublizist)

 

„Gartentherapie ist eine fachliche Maßnahme, bei welcher pflanzen- und gartenorientierte Aktivitäten und Erlebnisse genutzt werden, um zielgerichtet Interaktionen zwischen Mensch und Umwelt zu unterstützen, mit dem Ziel der Förderung von Lebensqualität und der Erhaltung und Wiederherstellung funktionaler Gesundheit.
Dieses beinhaltet die Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, die Erhaltung und Förderung von selbstbestimmter gesellschaftlicher Teilhabe und Aktivitäten, sowie die fördernde Einwirkung auf den Lebenshintergrund.“
(Aus: Andreas Niepel, Gabriele Vef-Georg – Praxishandbuch Gartentherapie)

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