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Das Vaginalnetz vom Obsthändler

von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

Der Monat November war rappelvoll mit aufregenden Ereignissen im Gesundheitswesen: die Klagewelle der Krankenkassen wegen Abrechnungsbetrug, die Geburt von genmanipulierten Zwillingen in China, die MEDICA in Düsseldorf, die ImplantFiles. Diskussionsstoff genug für Ingo und Jupp bei ihrem monatlichen Stammtischtreffen in der Eckkneipe.

Mann Ingo, du kommst doch langsam in das Prothesen-Alter: hast du dir schon den passenden Herzschrittmacher, die richtige Hüftprothese oder die präzise Insulinpumpe ausgesucht? Wenn du da nicht aufpasst, kannst du ganz schön reinfallen.

  • Mein lieber Jupp, du willst doch wohl nicht etwa andeuten, dass ich alt geworden bin? Vor-beugen ist besser als nach hinten fallen. Mit meiner gesunden Ernährung, ausreichend Bewegung und der positiven Einstellung im Gehirn kann ich noch immer einen großen Bogen um einen Arzt, geschweige denn um ein Krankenhaus machen. Das haben wir beide doch wohl in unserer Berufspraxis im Gesundheitswesen gelernt, oder? Eine Krankheit ist viel zu ernst, als dass man sie einem Arzt anvertrauen sollte. Der setzt meistens nur darauf, dass die Selbstheilung des Patienten einsetzt.

Also Ingo, der große Rudolf Virchow hat mal gesagt: „Ein bisschen Kranksein ist manchmal ganz gesund.“ Jedes Mal, wenn ich krank bin, wird mir erst bewusst, wie gut es mir eigentlich vorher gegangen ist. Dann spreche ich mit meinen Zellen und frage sie ernsthaft, wann sie endlich wieder ihre Anstrengung auf meine Genesung konzentrieren wollen.

  • Richtig Jupp, das ist ja auch der Ansatz der Resilienzmedizin, welche die Selbstheilungskräfte aktivieren will. Placebos lösen im Gehirn oft die gleichen Immunabwehraktionen wie Medikamente aus. Der Glaube allein kann schon viel bewegen. Die Integrative Medizin kombiniert alternativmedizinische Verfahren mit der Schulmedizin, und das mit Erfolg.

Du willst die Krankheiten jetzt gesundbeten, Ingo? Lasst endlich die Schamanen und Geisterbeschwörer ans Krankenbett, oder wie? Kosmische Strahlen und heilende Hände reparieren die kaputte Aura des Patienten! Weisst du, das wird immer wilder mit der Esoterik. Vor kurzem wurde das neugebaute Wiener Krankenhaus Nord mit dem Satirepreis „das Goldene Brett 2018“ für den größten antiwissenschaftlichen Unfug des Jahres ausgezeichnet. Der „Bewusstseinsforscher“ Christoph Fasching, ein ehemaliger Autohändler, hatte den Neubau mit Zauberritualen „energetisch gereinigt“ und für 95.000 Euro einen esoterischen Schutzwall um das Krankenhaus gezogen, damit „keine negativen Energien aus dem Umfeld Einfluss auf das Haus und die Menschen nehmen können“. Die Erzdiözese Wien twitterte daraufhin: „Ein einfacher Segen wäre günstiger gewesen.“

  • Aber bitte mit Weihrauch und Weihwasser, damit der göttliche Schutz auch wirksam wird. Wie ich hörte, musste die zuständige Projektleiterin ihren Job abgeben. Der energetische Schutzwall um sie herum war wohl doch nicht stark genug. Aber Jupp, was wunderst du dich darüber? Auch in manchen Kliniken bei uns wird nach dem Mondkalender operiert, das Horoskop oder der Biorhythmus von Patient und Operateur bei der Terminfestlegung berücksichtigt. Die Naturheiler haben Hochkonjunktur, die Homöopathen verzeichnen Rekordumsätze.

Ingo, bist du jetzt zu den Naturphilosophen übergewechselt? Natürlich heilt ein gebrochenes Bein auch ohne medizinische Versorgung – aber besonders gut sieht es danach nicht mehr aus. Im medizinhistorischen Museum der Charité kannst du ein Prachtexemplar von ausgeheiltem Beinbruch eines kriegsverletzten Soldaten aus dem 19. Jahrhundert bewundern. Bei psychosomatischen Erkrankungen mag etwas esoterischer Hokuspokus noch wirksam sein, aber bei Gelenkarthrosen möchte ich doch lieber einen gestandenen Chirurgen an meinem Bein arbeiten sehen.

  • Also Jupp, das ist nicht immer sinnvoll. Der römische Philosoph Lucius Seneca hat schon vor zweitausend Jahren erkannt: „Die Krankheiten, an denen wir leiden, sind heilbar, und wenn wir uns nur bessern wollen, so unterstützt uns die Natur selbst dabei, die uns zum Rechten geschaffen hat.“ Dabei kannte er noch nicht den amerikanische Orthopäden Bruce Moseley. Er demonstrierte 2002, dass man bei Kniegelenk-Operationen, den beliebten Gelenktoiletten, schon durch eine simulierte Op einen gleichwertigen Erfolg erzielen kann.

Davon habe ich gehört, Ingo. Er teilte 180 Patienten in drei Gruppen ein: eine bekam das Gelenk arthroskopisch gespült und geglättet, die zweite nur gespült, die dritte Gruppe erhielt bei identischer Op-Vorbereitung eine Scheinoperation mit Spülgeräuschen vom Tonband, ohne dass am Kniegelenk etwas berührt wurde.  Und oh Wunder: nach ein bis zwei Jahren später ging es den Placebo-Patienten genauso gut wie den Operierten. Oxford-Ärzte testeten 53 chirurgische Interventionen und fanden nur bei 26 chirurgischen Eingriffen eine leichte Überlegenheit gegenüber der Placebo-Operation. Das macht dann schon nachdenklich. Wir Deutschen sind schließlich mit 170.000 Knie-Operationen weltweiter Spitzenreiter. Drei Viertel dieser Ops sind angeblich unnötig, wirkungsvoller wäre eine rechtzeitige Gewichtsreduktion und Physiotherapie.

  • Moseley hat also gezeigt, dass man dem kranken Knie nur etwas Anteilnahme vortäuschen muss, um im Patienten eine heilsame Wirkung zu erzielen. Im Mittelalter lebte Hildegard von Bingen nach der Devise: „Es ist wichtig, einen kranken Körper zu stärken, damit er dem Teufel und seinen Gehilfen Widerstand leisten kann.“ Da erscheinen in diesem Bild die geldhungrigen Orthopäden als des Teufels Gehilfen. 

Ja gut Ingo, aber wenn dir der Teufel in Gestalt deines Immunsystems schon die Gelenke zerfressen hat und du schmerzgepeinigt durch das Leben humpelst, helfen dir die guten Ratschläge von Seneca und der lieben Hildegard nicht mehr besonders. Da ist dann doch die Medizintechnik mit ihren Implantaten gefragt. Letztendlich willst du in diesem Zustand nur noch ein künstliches Hüft- oder Kniegelenk bekommen, und das schnellstmöglich, um die unerträglichen Schmerzen loszuwerden.

  • Ja, das gute alte Immunsystem, Jupp. Hast du zu viel davon, bekommst du Allergien. Hast du zu wenig, stirbst du an einer harmlosen Erkältung. Aber da hat die Wissenschaft ja enorme Fortschritte zu verzeichnen. Denk nur an den diesjährigen Medizin-Nobelpreis. Durch ein Abschalten bestimmter Bremsen kann das Immunsystem nun gezielt Tumorzellen bekämpfen. Und der Deutsche Zukunftspreis ging gerade an ein sensationelles Virenschutz-Medikament, welches die lebensbedrohenden Infektionen bei Transplantationen verhindern kann.

Du siehst also, Ingo: insofern ist unsere heutige Medizin von unschätzbarem Wert. Schade, dass sie in diesen Wochen so sehr in die Negativschlagzeilen geraten ist. Nimm nur mal die 200.000 Klagen der Krankenkassen wegen Abrechnungsfehler mit Rückforderungen von einer halben Milliarde Euro. Das ist doch völlig hirnrissig: wie sollen die Sozialgerichte diese Klagewelle bewältigen? Wie können die Abgeordneten im Bundestag die bisherigen Verjährungsfristen einfach von vier auf zwei Jahre verkürzen, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen? Und nun auch noch der Skandal mit den Medizinprodukten, die Implant-Files. Die erschreckenden Ergebnisse der weltweiten Recherchen kann niemand mehr unter den Tisch kehren. Vor allem die von drei Prüfstellen avisierte CE-Kennzeichnung eines Mandarinennetzes vom Supermarkt als Vaginalnetz ist doch ein gefundenes Fressen für alle Pressemedien.

  • Das kreative Netzdesign ist nichts Neues, Jupp. Vor einem Jahr gab es im New England Journal of Medicine eine Meldung, dass für Narbenbruch-Operationen ein Moskitonetz genauso gut geeignet wäre wie das tausendmal teurere medizinische Plastiknetz. Aber die Tatsache der Verdreifachung der Warnungen vor Medizinprodukten seit 2010 macht mich schon nachdenklich. Dabei ist es nur die Spitze des Eisberges. Letztes Jahr wurden 141 Fälle schadhafter Brustimplantate an das BfArM gemeldet. Im gleichen Zeitraum wurden in deutschen Kliniken 3170 Implantate wegen Undichtigkeiten entfernt - mehr als der Faktor 20 in der Dunkelziffer. Pro Jahr melden die Hersteller etwa 1000 Sicherheitswarnungen oder Rückrufe, das BfArM hat seit 2010 offenbar nur sechs Mal einen Rückruf angeordnet.

Ingo, das liegt doch wohl auch daran, dass das BfArM ein Aufpasser ohne Zähne ist. Als Bundesbehörde hat sie keinerlei Einfluss darauf, wie die zuständigen Landesbehörden bei Zwischenfällen und Warnungen reagieren. In den zehn Jahren zwischen 2005 und 2016 wurden in der Hälfte der Fälle selbst bei Alarmen bei Hochrisikoprodukten keinerlei Maßnahmen ergriffen. Das Bundesgesundheitsministerium gibt intern sogar zu, dass es nur für jedes zehnte Medizinprodukt der höchsten Risikostufe klinische Daten gibt.

  • Es ist das alte Lied, Jupp: im Medizinprodukterecht hat der Gesetzgeber für die klinische Prüfung eine Ausnahmeregelung vorgesehen, nämlich wenn eine ausreichende Dokumentation über die Erfahrung mit dem Vorprodukt vorgelegt wird. Dieses Äquivalenzprinzip wird von der Industrie schamlos ausgenutzt, um schnell und kostengünstig neue Produkte auf den Markt zu werfen.  So kommt es, dass 90 Prozent der Implantate in Patienten eingesetzt werden, ohne dass sie vorher in klinischen Studien getestet wurden.

Kein Wunder, dass die amerikanischen Hersteller den europäischen Markt als Testgebiet für ihre neuen Medizinprodukte auserkoren haben. Der Weltmarktführer Medtronic fällt in den Implant Files besonders negativ auf. Deren Rate an fehlerhaften Medizinprodukten ist doppelt so hoch wie bei Konkurrenzunternehmen. Seit 2008 seien allein die Insulinpumpen und Einzelkomponenten des Konzerns mit mehr als 2600 Todesfällen und 150.000 Verletzungen in Verbindung gebracht worden. Als Spitzenreiter in der US-Datenbank MAUDE hat Medtronic über 200.000 Meldungen für mögliche Schadensfälle angesammelt. Seit 2008 stellte der Konzern für Rechtsstreitigkeiten die gigantische Summe von 3,2 Milliarden Dollar bereit. Was aber wohl zu verkraften war, denn bei 30 Milliarden Dollar macht Medtronic so viel Umsatz pro Jahr wie die gesamte deutsche Medizinproduktebranche.

  • Ab 2020 wird ja alles besser, wenn die EU-Verordnung für Medizinprodukte mit ihren verschärften Anforderungen vollständig umgesetzt werden muss. Da wird das Sterben der Benannten Stellen wohl weitergehen. Schon jetzt sind von den 86 Prüfstellen noch 50 übriggeblieben. Und sie müssen endlich Mediziner mit klinischer Erfahrung beschäftigen.

Aber Jupp, das ist doch Augenauswischerei. Die Anforderungen an klinische Studien sind viel zu schwammig: ein Implantat oder ein anderes Medizinprodukt benötigt einen "ausreichenden klinischen Nachweis". Wie und vor allem wer definiert diese Anforderung?  Das Grundproblem der Interessenkonflikte bei den Benannten Stellen wurde nicht angetastet. Kommerziell arbeitende Prüfstellen entscheiden als Partner des Herstellers darüber, ob ein Produkt implantiert werden darf. Sie stehen in heftiger Konkurrenz mit allen anderen Kollegen in Europa, so kann sich der Hersteller die genehmste Stelle heraussuchen. So war das eigentlich von der EU bei der Revision der Richtlinien nicht geplant. Die aktivsten Lobbyisten für die Industrie waren unter anderem Volker Kauder und Jens Spahn. Die deutschen Vertreter übten einen enormen Druck auf die EU-Parlamentarier aus und konnten damals stolz verkünden, dass die neue EU-Verordnung nun ohne staatliche Zulassungsbehörde und ohne die Verpflichtung, Medizinprodukte auf ihren Nutzen für Patienten zu testen, verabschiedet wird.

  • Also Ingo: beim Stichwort staatliche Zulassungsbehörde bekomme ich ein Zucken im Auge. Denk nur mal an die Rolle unseres Kraftfahrtbundesamtes bei der Zulassung von Autos.
    Aber jetzt muss ich mich erstmal bei unserem zertifizierten Bier erholen. 500 Jahre Reinheitsgebot – das hat sich augenscheinlich bis heute bewährt. Und das ohne tausendseitige Regulierungen.

Du hast Recht, Jupp. Wir brauchen jetzt zum Ausgleich ein verlässliches Qualitätsprodukt.

Herr Wirt bitte zwei Bier, ohne CE-Zeichen.

 

Die Frage, die sich den Männern der Wissenschaft täglich mehr und mehr aufdrängt,
ist nicht, wie viele Krankheiten gibt es, sondern wie wenige gibt es doch,
die nicht die Folgen der Unwissenheit, Rohheit, Torheit und Nachlässigkeit sind.

Charles Kingsley (1819 - 1875), englischer Pfarrer, Historiker und Schriftsteller

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