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Die Graswurzeln bewegen sich!

von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

Vor genau sieben Jahren hat sich Jupp im Rahmen seiner Weihnachtseinkäufe mit dem Risikomanagement befasst und ist an der Herausforderung schier verzweifelt. Inwieweit die Risikobewertung für dieses Fest ausreichend war, wird sich erst im Januar zeigen, wenn die Schadensbetrachtung erfolgt ist. Im Dezember 2014 erging sich Ingo Nöhr in der gesellschaftlichen Betrachtung der Risikoursachen. Dies hatte Folgen. Ein Jahr später fasste Ingo angesichts der permanent schlechten Nachrichten zur Wahrung seines Seelenfriedens den Entschluss, sein Umfeld als die Beste aller möglichen Welten mit den Augen des Voltaire‘schen Professor Pangloss zu betrachten. Seitdem geht es ihm im Gegensatz zu seinem Kumpel viel besser.

Hallo Ingo, irgendwie stecken wir wohl in einer Zeitschleife. Es gibt wieder einen neuen, diesmal absolut endgültigen Eröffnungstermin für den BER-Flughafen, die GroKo kämpft immer noch ums Überleben, die stupiden Staatslenker der Welt werden nicht müde, uns mit ihren Dummheiten zu nerven, …

  • Jupp, hebe dir die Details bitte unseren Jahresrückblick im Januar auf. Jetzt ist es noch zu früh, das Jahr 2019 zu beschließen. Du siehst doch, in welchem Tempo die Ereignisse einschlagen.

Aber eins hat sich nicht geändert in all den Jahren. Du als unverbesserlicher Optimist wartest immer noch auf den Umbruch in der Welt. Wann steigt dein Phönix endlich aus der Asche?

  • Jupp, der Phönix schlägt schon überall leise mit den Flügeln. Den Trümmerhaufen um uns herum hast du ja selbst schon festgestellt.

Ja klar, Ingo, der Schutt ist mit der Zeit immer größer geworden. Aber unter der Oberfläche sehe ich noch keine Bewegung, die auf einen Neuanfang hinweisen. Selbst das „großartige“ Klimaschutzpaket der Regierung wird schon wieder zerredet. Friedrich Merz nennt das gesamte Erscheinungsbild der Bundesregierung einfach „grottenschlecht“ und Emmanuel Macron diagnostiziert schon den Hirntod bei der NATO.

  • Ja, der arme Macron, der hat es gerade nicht leicht. In wenigen Tagen muss er einen Generalstreik aushalten, der das gesamte Frankreich stilllegen wird. Das sind nicht mehr nur die Gelbwesten, die er bislang geschickt mit vielen Zugeständnissen beruhigt hatte. Diese Bewegung mit anfangs 300.000 Demonstranten war der größte Aufruhr seit den Pariser Mai-Unruhen 1968. Bemerkenswert sind die immer lauter werdenden Forderungen nach direkter Demokratie, also konkreter Bürgerbeteiligung. Siehst du da nicht schon die ersten Regungen des Phönix, Jupp?

Na ja, nicht gerade bei uns. In den USA ist der Phönix für die meisten Republikaner schon längst aufgetaucht, Ingo. Am 22. August 2019 hat die Hybris von Donald Trump eine göttliche Sphäre erreicht. Auf seinem Kreuzzug für eine gerechtere Handelswelt hält er sich für den von Gott persönlich auserwählten Präsidenten. Am Mittwoch letzter Woche bestätigte sein tiefgläubiger Energieminister Rick Perry in einem Interview, dass der US-Präsident die höchste Autorität genießt: sie stammt wie bei David und Salomon direkt von Gott.

  • Jupp, das erinnert mich an die Meldungen über seine plötzlich ausgelöste Gesundheitsuntersuchung. Da hat er stolz eine Fotomontage getwittert, die ihn als Boxer mit muskulösem Oberkörper zeigt. Putin kann jetzt die Fotos von seiner nackten Brust verschämt einpacken.

Ingo, es gibt noch Steigerungen. Seit kurzem kannst du in einer Londoner Galerie das Gemälde eines komplett nackten, allerdings fettleibigen Donald Trump bewundern. Die Künstlerin Illma Gore kam nun in der Maddox Gallery unter, nachdem sie in den USA tausend Todesdrohungen erhalten hatte. Jetzt steht das Werk mit dem passenden Titel „Make America Great Again“ für 1,2 Millionen Euro zum Verkauf.

  • Wenn du Donald lebensgroß und dreidimensional in deinem Wohnzimmer aufstellen wolltest, kommst du leider zu spät, Jupp. Die wenig schmeichelhafte Skulptur wurde gerade für 28.000 Dollar an ein Museum in Las Vegas verkauft. Der Titel ist auch provokant: „The Emperor has no Balls“.

Und so sieht nun der moderne Phönix aus, Ingo? Ein demokratisch gewählter Diktator, der wie in der Türkei, in Brasilien, und anderswo bei der frustrierten Bevölkerung die Hoffnung weckt, dass dieser Rambo den Sauhaufen endlich aufräumt?

  • Ja vielleicht. Schon die alten Griechen hatten mit der Herkules-Sage ein Vorbild geschaffen. Aber kommen wir zurück auf den Neubeginn, den ich erwarte. Dieser entsteht nicht durch göttliche Eingriffe, politische Planung, kommerzielle Manipulation oder fremdstaatliche Propaganda. Er beginnt leise und partiell unter der Oberfläche: der Unmut sammelt sich dort, verstärkt sich und wartet auf einen Zündfunken. So taucht plötzlich Pegida auf, organisiert sich als politische Partei AfD und erobert erschreckend schnell die Parlamente. Sie bietet vor allem im Internet mit ihren Ideen außerhalb des gesellschaftlichen Mainstreams eine Plattform und erzeugt ein Schwarmverhalten. Eine solche Initiative, die aus der Basis der Bevölkerung entsteht, nennt man Graswurzelbewegung.

Wenn ich dich richtig verstehe, Ingo, führst du auch die aktuellen Unruhen in Hongkong, Bolivien, im Irak auf ein solches Graswachsen zurück. Ziviler Ungehorsam wie bei der Antiatombewegung, beim Hambacher Tagebau, bei Aktionen von Greenpeace, der arabische Frühling – alles Flattern eines Phönix-Flügels? So sehr überzeugt mich das aber nicht. Das sind doch mehr lokale oder regionale Effekte gewesen. Nenne mir doch mal eine globale Graswurzelrevolution.

  • Gerne Jupp. Eine Graswurzelbewegung mit weltweiten Auswirkungen hat den amerikanischen Wahlkampf verändert. Als unbekannter Kandidat erhielt Barack Obama keinerlei Unterstützung aus dem Partei-Establishment. Aber dann engagierten sich überraschend mehrere Hunderttausend Freiwillige für den „Change“, sammelten Spenden und ermöglichten 2008 erstmals den Wahlsieg eines farbigen US-Präsidenten. Die nachhaltige Bindung der Unterstützer misslang aber nach der Wahl, denn die Bewegung versandete, als die hohen Erwartungen nicht erfüllt werden konnten. Die Folgen spürt die Welt bis heute. So kam Trump mit der nächsten Graswurzelbewegung an die Macht.

Also Ingo, du leuchtet mir ein, ein gutes Beispiel. Also hätte demnach Greta Thunberg auch so eine Graswurzelbewegung ausgelöst.

  • Wenn man die Größe des Rasens betrachtet, den sie nur mit einem kleinen Schild an ihrer schwedischen Schule in Bewegung gebracht hat, ja. Die Geschichte ist ja voll mit Menschen, die ganze Gesellschaften verändert haben, nimm nur Mahatma Gandhi, Karl Marx, Wladimir Lenin – von den Horrorgestalten der Zeitgeschichte ganz zu schweigen. Es sind oft aber gesellschaftliche Gruppierungen, die plötzlich anspringen. In den 1960er Jahren begann es mit den Anti-Vietnam-Protesten, mit Woodstock, LSD, der Hippie-Generation, den Studentenrevolten in Paris, Berlin und vielen anderen Ländern, so auch der Prager Frühling, der Streik in der Danziger Werft und in der DDR. Überall wachten die Menschen aus ihrer Lethargie auf, organisierten sich gegen die Staatsgewalt und lehrten den Mächtigen das Fürchten. Und beachte Jupp, alles noch ohne Internet.

Ingo, habe ich es selbst erlebt, die sexuelle Befreiung in den Sechzigern. Die Pille war erfunden, die Kirche hatte nichts mehr zu melden. Alte Konventionen und Tabus wurden hinweggefegt. Die APO als Außerparlamentarische Opposition war plötzlich gesellschaftsfähig. Wow, das waren heiße Zeiten.

  • Damals wurden die allmächtigen Professoren von ihrem Thron gestoßen: „Unter den Talaren – Muff von Tausend Jahren“. Die studentische Mitbestimmung veränderte die Hochschulwelt, durch unzählige Bürgerinitiativen entstand eine neue politische Kultur. Und die Zeit ist wieder reif dafür, Jupp. Letzte Woche fuhren 8000 Traktoren nach Berlin und legten den Verkehr lahm. Was passiert, wenn bei der nächsten Sturmflut Hamburg wie kürzlich Venedig unter Wasser steht? Wenn zunehmend erboste Steuerzahler laut fragen, warum die gigantischen Geldvernichtungen beim BER Flughafen, bei Stuttgart 21 oder beim Mautskandal keine juristischen Folgen für die Verantwortlichen nach sich ziehen? Warum der brave Sparer jetzt plötzlich Negativzinsen zahlen soll? Da hat sich überall ein brisanter Vorrat an Zündstoff gebildet.

Beeindruckend, Ingo. Wo siehst du denn die Graswurzelbewegung in unserem Gesundheitssystem? Kam etwa beim Pflegenotstand schon unser Phönix zum Einsatz?

  • Nein, das glaube ich nicht, denn es hat ja keine revolutionären Änderungen am System gegeben. Mit viel Geld, Versprechungen und gesetzlichen Maßnahmen hat Jens Spahn erst mal für eine trügerische Ruhe gesorgt. Ich sehe den Phönix eher aus dem amerikanischen und chinesischen Sektor auftauchen. Billionenschwere Investoren suchen nach lukrativen Anlagemöglichkeiten für ihre übervollen Schatullen und finden sie im deutschen Gesundheitsmarkt. Es findet seit Jahren unter der Oberfläche durch knallharte kapitalistische Aufkäufe eine enorme Marktkonzentration im Bereich der Kliniken, der Labore und der Hersteller statt. Es entstehen internationale Megakonzerne, die auf Maximierung des Profits und Marktbeherrschung hinarbeiten.

Und die lassen den Phönix jetzt einfach so aus dem Käfig raus, um uns ein neues Gesundheitssystem zu bescheren? Das kann ich mir nicht vorstellen, Ingo.

  • Der Vogel sitzt ja nicht im Käfig, sondern wartet unter der Oberfläche auf eine gute Gelegenheit. Das System, was unsere Regierung immer als alternativlos definiert, ist ja gar nicht so unabänderbar, wie die bisherige Zeitgeschichte immer wieder gezeigt hat.

Mag ja sein, Ingo, aber die großen Revolutionen sind bei uns in der deutschen Vergangenheit eigentlich ausgeblieben. Wir haben unsere Systeme laufend reformiert und verbessert. Nimm nur die Televisite, oder die elektronische Patientenkarte. Das braucht alles Zeit und der Deutsche kauft für die Revolution vorher immer erst eine Bahnsteigkarte, wie mein seliger Opa weise kommentiert hat.

  • Vielleicht muss der Deutsche gar nicht erst einen Bahnsteig erklimmen. Die Revolution klopft höflich an seine Tür und lädt ihn ein. Ein mögliches Szenario, Jupp:  Google, Amazon, Microsoft oder andere Wirtschaftsmonster etablieren ein paar Superkliniken, gründen eine private Krankenkasse und bieten den lukrativen, sprich „guten“ Patienten in ihren Häusern exzellente Medizinleistungen zu wesentlich günstigeren Konditionen an. Dazu jede Menge Zusatzbonbons wie eHealth-Apps, Wearables, KI-Doktor-Beratungen, Pflegeleistungen und 24/7 Bereitschaft per Telemedizin. Wie bei Facebook, WhatsApp, Youtube wird sich ein Millionenheer von Nutzern in Bewegung setzen und auf ihre Datenschutzrechte pfeifen.

Jetzt verstehe ich allmählich, wo du deinen Optimismus herholst, Ingo. Wenn du dann als privater Superpatient dement geworden bist, dann kommst du in eine geheizte Box und man setzt dir eine VR-Brille mit deinen Erinnerungsfotos und Lieblingsfilmen auf. Zur Beobachtung sitzt ein Kuschelroboter mit Sensoren daneben. Du wirst intravenös ernährt, damit du nicht verhungerst und einmal täglich werde ich als Hologramm kurz zugeschaltet. Diese Technologie würde natürlich gewaltige Einsparungen mit sich bringen.

  • So so, Jupp. So stellst du dir also meinen Lebensabend vor. Da werde ich mich mal mit meinem Szenario rächen. Als leidenschaftlicher Biertrinker und Gourmetfreund kostet dein Leben der Gesellschaft und deinem Seniorenheim auch eine Menge Ressourcen. Man könnte dich aus Kostengründen ebenso auf künstliche Ernährung umstellen, deine Geschmacks- und Geruchsnerven sowie die entsprechenden Hirnareale mit Nanodrähten ansprechen, welche dann sensationelle Essgefühle stimulieren. Beim Biergeschmack darfst du dann unter vierhundert Sorten wählen. Wie gefällt dir das, Jupp?

Grauenhaft. Ich hätte gern noch andere Lustzentren stimuliert, die ich aber nicht weiter ausführen möchte. Ich denke mal, bis zum Erleben dieser dystopischen Zukunft sollten wir noch unser altmodisches Dasein in einer urgemütlichen Kneipe mit einem netten Wirt genießen und diesen Genuss mit dem speziellen Hopfenblütengetränk feiern.

  • Gut gesprochen Jupp. Also Herr Wirt, bitte zwei Bier für deine noch überaus rüstigen Gäste.

Und unseren Lesern wünschen wir von der Weltlage unbeschwerte Feiertage und einen nicht-disruptiven Sprung in das neue Jahr 2020. Möge es uns einen erfolgreichen Übergang in den Neubeginn ermöglichen.  

Kreuzfahrt statt Altersheim?

Wenn ich einmal in später Zukunft alt und klapprig bin, werde ich bestimmt nicht ins Altersheim gehen, sondern auf ein Kreuzfahrtschiff. Die Gründe dafür hat mir unser Gesundheitsministerium geliefert:
Die durchschnittlichen Kosten für ein Altersheim betragen 200 € pro Tag.
Ich habe eine Reservierung für das Kreuzfahrtschiff "Aida" geprüft und muss für eine Langzeitreise als Rentner 135 € pro Tag zahlen. Nach Adam Riese bleiben mir dann noch 65 € pro Tag übrig.

Die kann ich verwenden für:

  1. Trinkgelder: 10 € Tag
  2. Ich habe mindestens 10 freie Mahlzeiten, wenn ich in eines der Bordrestaurants wackele oder mir sogar das Essen vom Room Service auf das Zimmer, also in die Kabine, bringen lasse. Das heißt in anderen Worten, ich kann jeden Tag der Woche mein Frühstück im Bett einnehmen.
  3. Die "Aida" hat drei Swimmingpools, einen Fitnessraum, freie Benutzung von Waschmaschinen und Trocknern und sogar jeden Abend Shows.
  4. Es gibt auf dem Schiff kostenlos Zahnpasta, Rasierer, Seife und Shampoo.
  5. Das Personal behandelt mich wie einen Kunden, nicht wie einen Patienten. Und für 5 € Trinkgeld extra pro Tag lesen mir die Stewards jeden Wunsch von den Augen ab.
  6. Alle 7 bis 14 Tage lerne ich neue Leute kennen.
  7. Fernseher defekt? Glühbirne kaputt? Die Bettmatratze ist zu hart oder zu weich? Kein Problem, das Personal wechselt es kostenlos und bedankt sich für mein Verständnis.
  8. Frische Bettwäsche und Handtücher jeden Tag sind selbstverständlich – und ich muss nicht einmal danach fragen.
  9. Wenn ich im Altersheim falle und mir eine Rippe breche, dann komme ich ins Krankenhaus und muss gemäß der neuen Krankenkassenreform täglich draufzahlen. Auf der "Aida" bekomme ich für den Rest der Reise eine Suite und werde vom Bordarzt kostenlos verarztet.
  10. Ich habe noch von keinem Fall gehört, bei dem zahlende Passagiere eines Kreuzfahrt-schiffes vom Personal bedrängt oder gar misshandelt worden wären. Auf Pflegeheime trifft das nicht im gleichen Umfang zu.

Nun das Beste:
Mit der "Aida" kann ich nach Südamerika, Afrika, Australien, Japan, Asien - wohin auch immer ich will. Darum sucht mich in Zukunft nicht in einem Altersheim, sondern "just call shore to ship". Auf der "Aida" spare ich jeden Tag 50 € und muss nicht einmal mehr für meine Beerdigung ansparen.

Mein letzter Wunsch ist dann nur: Werft mich einfach über die Reling. Das ist nämlich auch kostenlos.

(Anonymer Autor)

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