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Die Tücken der Technik – Der intelligente Anzug

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr zum April 2023: (Update Beitrag Oktober 2015)

Ingo, letztes Mal haben wir über die Gesundheits-Apps gesprochen. Hast du schon von den intelligenten Textilien gehört? Da ist der Laptop gleich in Hemd und Hose eingenäht.

  • Du meinst wahrscheinlich die Wearables. Ganz interessante Sache. Das moderne Hör­gerät ist ein Vorläufer gewesen – ein tragbares Computersystem, welches während des Gebrauchs unauffällig am Körper des Benutzers getragen wird. Die Smartwatches und Fitness-Armbänder gibt es auch schon länger zu kaufen.  Die Fans der Quantified-Self Bewegung wollen permanent ihren Körper mit Sensoren auf der Haut und in der Kleidung überwachen.

Ich stelle mir das gerade plastisch vor, Ingo. Die kommen dann zum Arzt und wenn der unvorsichti­ger­weise fragt, „Wie geht es uns denn heute?“, dann legen sie die grafischen Aufzeichnungen über ihre Plus- und Atmungsfrequenzen, Temperatur-, Bewegungs- und Blutdruck­profile, Kalorienauf­nahme und –verbrauch, Ausscheidungs-, Schlaf- und Ruhezeiten der letzten Wochen vor: „Also, Doc, schau mal hier. Vorgestern gegen 22.35 Uhr hatte ich einen abrupten Anstieg meiner Pulsfrequenz mit einem außergewöhnlichen Heißhunger auf Schoko­lade, begleitet von einem starken Abfall meiner Körpertemperatur mit solchen Ermüdungsersche­inungen, wie ich sie letztmalig vor 74 Tagen beobachtet habe. Das sieht doch verdächtig nach einer Magen-Darm-Reaktion auf verdorbenes Essen aus, oder?“

  • Jupp, in diesem Fall würde ich erstmal nach dem vorgestrigen Abendprogramm im Fernsehen fragen. Das kann auch außergewöhnliche Reaktionen hervorrufen. Aber würde es dich denn nicht stören, dass deine intimen Daten von Hunderten von Firmen ausgewertet und in Kundenprofile umgewandelt werden?

Ingo, du siehst immer nur das Schlechte im Leben. Denk doch mal positiv.

  • Du weißt doch: die Europäer sind die Skeptiker und die Amerikaner die Visionäre.

Nimm mal an, du hast jetzt in diesem Trabi gesessen und liegst nun schwerverletzt im Straßengraben. Die LKW-Fahrer sprechen nur georgisch und können den Rettungsdienst nicht alarmieren. Du blutest da so langsam vor dich hin und hoffst, dass endlich mal jemand vorbeikommt. Da kommt ein Rad­fahrer. Der verständigt im nächsten Dorf den Arzt, falls es dort überhaupt noch einen geben sollte. Da wir ja positiv denken, nehmen wir also an, dass eine halbe Stunde später dieser Arzt die lebens­rettenden Maßnahmen an dir vorgenommen hat. Gemeinsam wartet ihr jetzt auf den Krankenwagen aus der nächsten Stadt.  Nach einer Stunde bist du auf dem Weg zur Unfallklinik in die 30 km entfer­nte Großstadt, wo du dann eine halbe Stunde später halbtot ankommst.

  • Hört sich realistisch an, Jupp. Wahrscheinlich sollte man in Zukunft die ländlichen Gegenden generell meiden, angesichts unserer künftigen Gesundheitsversorgung. Aber du hast jetzt sicher ein Patentrezept parat, oder?

Natürlich. Wenn du mal endlich smarter werden solltest, dann trägst du in deinen Klamotten einen Computer mit ganz vielen Sensoren. Der stellt jetzt anhand der Beschleunigungswerte fest: „Oh, da hat es gerade geknallt. Wie geht es denn meinem Chef jetzt?“ Puls, Atmung, Muskeltonus zeigen alarmierende Werte. Der Lab-on-a-Chip erstellt gerade ein komplexes Blutbild, Material ist ja genug vorhanden. „Chef ist bewusstlos, lebensbedrohlich. Emergency-Mode einschalten!“ Also muss dein Anzug ab sofort eigenverantwortlich handeln. Er ruft die Polizei an und meldet den Crash, präzise genau mit seinen GPS-Daten. Der nächste Rettungs­dienst erhält einen Notruf zusammen mit einer genauen Anfahrtsskizze. An die Notfallambulanz der nächsten Klinik werden deine medizinischen Daten inklusive der Angabe der Krankenversicherungs­leistungen übermittelt. Mit seinem Sprach- und Übersetzer­modul spricht er die LKW-Fahrer an, erkennt dessen Landessprache und fordert sie in Georgisch auf, die lebensrettende Ersthilfe durchzuführen.

  • Jupp, ich nehme eher an, dass die georgischen Fahrer panisch die Flucht ergreifen werden, wenn sie plötzlich von meinem Anzug angesprochen werden. Dann kann ich von Glück sagen, wenn sie mich nicht als Außerirdischen betrachten und vorsichtshalber totschlagen.

Also Ingo, was denkst du denn? Die Georgier leben schließlich auch nicht hinter dem Mond. Wenn es dir lieber ist, ersetze die Nationalität der Fahrer eben nach Belieben. 

  • Na gut, Jupp. Wenn mein Computer also wirklich so smart wäre, dann könnte er sich ausrechnen, dass ich aufgrund der langen Anfahrts­wege der Retter kaum eine Überlebenschance besitze. Er wird vorsorglich ein Bestattungsunter­nehmen anrufen und es darüber informieren, dass in Kürze einer neuer Auftrag zu erwarten ist. Er könnte auch alle meine Angehörigen und Freunde kontaktieren, um zu melden, dass ich momentan bzw. zukünftig nicht mehr einsatzbereit bin. Und meine Patientenverfügung hat er natürlich auch für alle relevanten Interessenten parat. Vielleicht bin ich wenige Minuten nach meinem Unfall schon bei Eurotrans­plant als Kandidat angemeldet. Im günstigen Fall als Empfänger, ansonsten als Organspender.

Du hast mal wieder eine schreckliche Fantasie und solltest lieber Horrorgeschichten verfassen. Aber du musst doch zugeben, dass die Übersetzungssoftware im Smartphone gerade in der deutschen Flüchtlingskrise besonders gute Dienste leistet.

  • Natürlich, aber sie hat aber auch ihre Grenzen. Da kommt eine türkische Patientin zum Arzt und schildert ihre Symptome. Der elektronische Dolmetscher übersetzt: „Ein kalter Wind weht mir in den Knochen. Ich habe den Kopf gegessen. Mir brennt die Leber!“ Was soll der Arzt jetzt machen? Überweisung an den Orthopäden? Magen-Darm-Untersuchung? Leberwerte bestimmen? Dabei hat sie nur in ihrer blumigen Sprache gesagt: „Ich habe beißende Schmerzen. Langsam drehe ich durch. Ich fühle deswegen eine tiefe Trauer.“

Ingo, da hast du natürlich recht. Wenn ich in einem exotischen Urlaubsland total genervt zum Arzt gehen und dort sagen würde „Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Mein Schädel platzt bald vor lauter Kindergeschrei.“, dann wird er mir wahrscheinlich die Halswirbel­säule neu einrenken, anschließend einen strammen Gipsverband um meinen Kopf wickeln und meine Gehörgänge verstopfen. Aber in diesem Fall habe ich natürlich auch eine Idee. Ich lasse mich per Skype oder einer anderen App mit einem deutschsprachigen Dolmetscher aus dem Gesundheits­wesen verbinden. Oder gleich mit meinem Internet-Doc zu Hause.  

  • Also, Jupp, ich stelle mir gerade vor, wie du in deinem exotischen Urlaubsland mit deinem Computergedöns und all diesen Sensoren am Körper in deiner Badehose am Strand herumläufst. Für die Frauen gibt es dann den Smart-Bikini mit einer elektrischen Defibrillator-Funktion, falls ein unerwünschter Verehrer die Finger nicht von den sensiblen Partien der Dame lassen kann. Überhaupt, wie machst du denn deine Smart-Klamotten wasserdicht, knitterfrei und bügelfest?

Man sieht mal wieder, dass du keinerlei Ahnung von den neuen Innovationen hast, Ingo. Natürlich werde ich nicht einen Laptop zerlegen und dessen Einzelteile dann in meine Wäsche einnähen. Das ist heutzutage alles Mikro- oder Nanotechnologie und wird gleich in die Textilien eingewebt. Die Sensoren werden wie kleine Tattoos auf die Haut geklebt oder dort als Mikrochips eingepflanzt. Zur Stromversorgung dienen deine Körperwärme und die ständigen Muskelbewegungen.

  • Faszinierend. Wir sind ja auf dem besten Wege zum Cyborg und werden bald wie Arnold Schwarzenberger als Terminator herumlaufen. Hasta la vista, Baby. Unkaputtbar. Was deine Frau dazu wohl sagen wird? Aber vielleicht ist sie dann auch schon so ein elektronisches Zwitterwesen geworden. Und du kannst mit einer Fernbedienung einfach ihr Gemecker abschalten. Wäre doch toll, Jupp, oder?

Ingo! Stell dir doch nur mal die Zukunft hier in unserer Kneipe vor! Ein Sensor in meiner Hose stellt bei meiner Blase einen Flüssigkeitsbedarf in Form von Bier fest, klärt das mit meinem Diätprogramm ab, kontrolliert noch schnell meine Leberwerte, prüft dann die Finanzierbarkeit anhand meiner verfüg­baren Barmittel und bestellt bei der Schürze unseres Wirtes automatisch ein Bier für unseren Tisch.

  • Mein lieber Jupp. Wir kommen jetzt gerade in ein gefährliches Fahrwasser. Wer weiß, was ein Sensor in deiner Hose an eine knackige Kellnerin melden würde. Da sitzt du nichtsahnend bei deinem Bier und kriegst von ihr plötzlich eine Ohrfeige verpasst. Aber vielleicht macht sie dich auch an, weil ihr dein Geldbeutelsensor parallel eine vielversprechende Information verschickt hat. 

Na siehste. Das ist doch die Lösung für alle schüchternen Singles. Wenn die Körpersprache nicht klappt, springt halt der smarte Anzug ein. So wie die Autos bald miteinander reden werden, kommunizieren auch unsere Klamotten.   

 

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