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Party auf der Titanic

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr zum 1. Dezember 2022 (zum letzten Mal)

Am 1. Dezember wird seit über 30 Jahren der Welt-Aids-Tag gefeiert.  Eine Pandemie, die schon ziemlich in Vergessenheit geraten ist. Warum eigentlich? Jedes Jahr verzeichnet die WHO über eine Million Neuinfektionen. Täglich! Exakt die gleiche Größenordnung haben wir zurzeit global auch bei den Corona-Neuinfektionen – 1 Million pro Tag. Bei beiden Pandemien ist noch eine mehrfache Dunkelziffer zu addieren. Man gewöhnt sich anscheinend an alles mit der Zeit.

Allmählich tritt die Erkenntnis zu Tage (besonders herausgehoben durch den neuen Untermieter, Jupps flüchtigen Ex-Nachbar, genannt Oleks), dass man anfangs bei den Covid-19 Maßnahmen etwas heftig überreagiert hat, (in Bayern mit der Ausgangssperre Ende März 2020 sogar verfassungswidrig). Auch der Ethikrat übt reichlich spät ein bisschen Selbstkritik, weil er damals die Kinder und Jugendlichen „vergessen“ hat. Aber wie schon Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn vorausschauend erklärte: „Wir werden einander viel verzeihen müssen“.

Wie geht es den beiden Krankenhaus-Pensionären Ingo und Jupp, die sich zum Selbstschutz von den täglichen Medienmeldungen abgeklemmt hatten? Halten sie die Nachrichtensperre angesichts der laufenden Fußball-Weltmeisterschaft auch durch? (Schließlich hatten sie ja die letzten WMs von Mai bis August 2014 mit vielen Kommentaren und Vorschlägen begleitet). Nun wiederholt sich die Pleite im Juli 2018 und die Deutschen scheiden erneut in der Vorrunde aus. Was für eine Blamage!

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Hallo Jupp, wie weit hast du denn deinen Atombunker schon fertiggestellt? Mich interessiert mal, wie du den kalten Winter überstehen willst. Holst du dir ein paar Pelztiere zum Aufwärmen in die Höhle?

  • Ach Ingo, da spricht doch der pure Neid aus deinen Worten. Natürlich werde ich alle Technologien für erneuerbare Energien nutzen, also Photovoltaik, Windenergie und Wärmepumpe. Wenn du beim nächsten Blackout im Dunkeln vor dich hinbibberst, darfst du gerne zu mir reingekrochen kommen. Hast du denn schon vergessen, dass im November 2005 im Münsterland nach einem Schneesturm eine Viertel Million Menschen vier bis sechs Tage ohne Strom auskommen mussten?

Nein, Jupp, ich weiß das noch sehr genau, weil Verwandtschaft von mir auch betroffen war. Ich rechne sogar damit, dass Hacker unser Stromnetz angreifen könnten. Oder dass die komplexe Regelung der Energieverteilung mal kurzfristig zusammenbricht. Aber dafür habe ich Pullover, Mäntel, Decken, viel Wasser, Schwarzbrot in Dosen und eine große Salami im Haus. Deswegen buddele ich doch nicht meinen schönen Garten um.

  • Übertreibe mal nicht, Ingo. Wenn Oleks mit seinen ganzen Bauarbeiten fertig ist, kann ich ja auch so einen schönen Therapiegarten wie bei dir anlegen. Aber dann zahle ich kaum noch Strom- und Heizkosten. Ich muss mir aber überlegen, wie ich Oleks danach noch weiterbeschäftige. Einen Atombunker mit meterdicken Betonwänden möchte ich auch nicht im Garten haben.

Ich wüsste schon etwas, Jupp: Werde Selbstversorger mit Obst- und Gemüseanbau. Da hat man fast ganzjährig zu tun. Du wirst deine eigene Biokost zu schätzen wissen, wenn du einen Blick in die letzten Testergebnisse und Rückrufe von Lebensmitteln wirfst. Schaff dir noch ein Schaf an, dann hast du Milch, Wolle und Dünger – und nebenbei brauchst du deinen Rasen nicht mehr zu mähen. Und wenn es ganz schlimm kommt, hast du noch für ein paar Wochen genug Fleisch zum Essen.

  • Natürlich, Ingo, so machen wir das – und du kommst dann und schlachtest und zerlegst mir dann mein Schaf in seine Einzelteile, ja? Das möchte ich sehen! Aber können wir jetzt mal das Thema wechseln, bitte? Wir haben schließlich wieder eine Fußball-WM zu diskutieren.

Nun gut, Jupp, aber fang jetzt bitte nicht an mit der bösen FIFA-Mafia, der wir für die Übertragung der Spiele 214 Millionen Euro an Gebührengeldern überwiesen haben, dem schrecklichen Austragungsort Katar mit seinem Bierverbot und der deutschen Nationalmannschaft, die morgen beschämt nach Hause fahren muss. Ich möchte lieber mal die gesellschaftlichen Tendenzen mit dir diskutieren, die sich da im Hintergrund abzeichnen.

  • Was meinst du damit? Gesellschaftlich haben wir am 2. Dezember schon nichts mehr zu feiern, sondern lecken gemeinschaftlich unsere Wunden.

Da haben auch unsere Regenbogenfarben nicht geholfen. Überhaupt, ist dir aufgefallen, wie störend unsere moralischen Zeigefinger bei den nichtwestlichen Völkern angekommen sind? Bis zur Lächerlichkeit. Unsere Scheinheiligkeit ist doch offenkundig: menschenunwürdige Behandlung der Gastarbeiter durch die Katarer? Wie haben wir denn die Rumänen bei den Fleischfabriken untergebracht? Unterdrückung der Frauen im Islam? Was sagt denn unser christliches Abendland zur gerechten Bezahlung von gleichwertiger Frauenarbeit? Wie sehr werden unsere Frauen durch die katholische Kirche diskriminiert?

  • Du meinst also, wir sind auch nicht viel besser?

Wir sehen doch die Welt mit eurozentrischen Augen. Unsere Kritik wird von der arabischen Seite als bevormundend, respektlos und moralisierend empfunden. Nimm das Verbot homosexueller Beziehungen: LGBTQ ist nicht akzeptabel? Aber 122 Jahre war gemäß § 175 die Homosexualität in Deutschland strafbar, erst 1994 wurde der Paragraf ersatzlos gestrichen, nachdem in über 100.000 Fällen Strafverfahren eingeleitet worden waren. Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP erklärte der Bundestag erst 2002 alle Verurteilungen während des Dritten Reiches für nichtig. Und Entschädigung für die Betroffenen gibt es erst seit 2017. Wir sollten da besser ganz leise auftreten.  

  • Ingo, ich verstehe langsam, was du sagen willst. Wir Europäer verlieren zunehmend an Bedeutung, wie FIFA-Präsident Gianni Infantino uns kürzlich spüren ließ. Die asiatischen und afrikanischen Länder werden hofiert, sind zunehmend in der Mehrheit und sind meistens nicht als glühende Demokratien bekannt. Zudem ist der Westen durch seine Konsumgier hauptsächlich für die Klimakatastrophe verantwortlich und soll nun den Schaden bezahlen.

Die Araber haben ein schönes Sprichwort: „Das Herz des Unverständigen ist in seinem Munde. Die Zunge des Verständigen ist in seinem Herzen.“ Wir reden also zu viel von Dingen, die wir nicht verstehen. Das werde ich mir zu Herzen nehmen. Ich fühle mich als Passagier auf der angeblich unsinkbaren Titanic, nachdem sie gerade den Eisberg gerammt hat. Oben auf dem Deck spielt weiterhin die Kapelle, die Reichen in der ersten Klasse holen sich Eisbrocken für ihren Whiskey. Unter Deck brechen in der zweiten Klasse die ersten Krawalle aus. Und die Ärmsten im untersten Deck kämpfen gerade gegen die einbrechenden Fluten an.

  • Schreckliches Bild, Ingo. Heutzutage würden die Reichen schnell ihre Yachten herbeiordern und sich mit dem Hubschrauber ausfliegen lassen. Und was würdest du als Beobachter machen?

Ich würde mich wie die letzte Generation mit Sekundenkleber an einen Reichen kleben. Nach seinem Landgang würde ich mir vor Ort ein Hausboot kaufen und gemütlich bei einem Bier auf den Untergang warten, während du dich in deinem Gartenbunker verkrochen hast.

  • Also Ingo, dass ich das noch mal erleben darf! Du hast dich von einem Optimisten zu einem Pessimisten verwandelt, denn anscheinend erwartest du keinen Phönix-Vogel mehr, der aus der Asche zum Neubeginn aufsteigt. Worüber sollen wir dann eigentlich noch streiten? Angesichts einer drohenden Überschwemmung zu Hause überlege ich gerade, ob ich nicht besser auch zu dir ins Hausboot kommen sollte.

Jupp, du bist herzlich willkommen. Bring uns auch noch die große Salami mit. Ich besorge derweil das Bier. Dann feiern wir die „letzte Generation“, aber ohne Festkleberei. Und lachen nebenbei über die Dummheit der Menschen. Wie sagte schon der selige Charlie Chaplin: „Wer das Leben zu ernst nimmt, braucht eine Menge Humor, um es zu überstehen.“

E N D E

Anmerkung: Mit diesen Worten endet auch meine Pflicht als Chronist der beiden Zeitgenossen, nachdem ich über zehn Jahre ihre Gespräche wortgetreu aufgezeichnet habe. Gönnen wir ihnen die besinnliche Ruhe. Vielleicht schmilzt der Eisberg ja vorher schneller ab, als die Titanic ihn erreichen kann. Wer weiß denn schon, was die Zukunft bringt?

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Narrheit

Den Narren erkennst Du an sechs Zeichen: Furcht ohne Grund, Rede ohne Nutzen, Wechsel ohne Fortschritt, Frage ohne Ziel, Vertrauen zu Fremden und Freundschaft mit seinem Feind.

(Arabisches Sprichwort)

 

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