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Über Risiken, Reichtum, Experten und andere unschöne Sachen

von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

„Hallo, Jupp, wieder zurück von der Grünen Woche in Berlin. Ich zitiere: die weltgrößte Messe für Ernährung, Landwirtschaft und Gartenbau. Letztes Jahr warst du voll beladen mit Prospekten und Leitfäden, weil du zu Hause für deine Familie die ISO 9001 einführen wolltest.“

Diese Frotzelei konnte ich bei unserem wöchentlichen Treff in der Eckkneipe gleich bei der Begrüßung nicht sein lassen. Amüsiert erinnerte ich mich an das gnadenlose Scheitern seiner Initiative vor einem Jahr, weil er die widersprüch­lichen Kundenerwartungen von Frau und Kindern nicht unter einen Hut bringen konnte.

„Schade, dass du dein Projekt nicht zu Ende gebracht hast. Es wäre jetzt sehr aktuell. Seit diesem Monat müssen gemäß §137(1d) Sozialgesetzbuch V die Krankenhäuser in ihrem Qualitätsbericht auch die Ergebnisse eines Risikomana­gements aufführen, welches zudem mit einem Fehlerauswertungs­system verbunden ist. Es gibt jetzt sogar eine neue Norm dafür: die DIN EN 15224, mit der du dein Qualitätsmanagementsystem nach ISO 9001 gleichzeitig mit deinem Risikomanagementsystem zertifizieren lassen kannst.“

 „Also, mein lieber Ingo, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich sehe da einen riesigen  Beratungs­bedarf am Markt, denn diese Norm gilt für sämtliche Gesundheitseinrichtungen, also auch  für Pflegeheime, Rehaeinrichtungen, Apotheken, Zahnärzte, Physiotherapeuten usw. Ich werde sogar meinen Akupunkteur und den Heilpraktiker darauf ansprechen, ob sie schon eine Risikoanalyse erstellt haben.“

„… und nicht zu vergessen, die Handaufleger, die Gesundbeter und all die anderen Esoteriker, die kosmische Energien einsetzen. Sie müssen schließlich damit rechnen, dass die Höhere Macht auch mal einen schlechten Tag hat. Und bedenke nur den schädlichen Einfluß von Erdstrahlen, Wasser­adern, Magnetfeldern, Sonnenstürmen und ungünstigen Planetenkonstellationen oder Biorhythmen  während der Behandlung, hochgradige Risiken!“ wagte ich etwas respektlos einzuwerfen. „Alle sollten sich jetzt an der DIN 15224 orientieren, sie gilt ja schließlich als der neue Stand der Technik.“

„15224 - wenn ich das schon höre. Was ist das für eine Zahl? So ein blöder Name für eine Norm, den kann sich doch keiner merken. Ganz schlechte Werbewirkung ist das. Die Normer sind eben keine Marketingleute. Warum haben sie die nicht ISO 9999 oder ISO 10.001 genannt? Das würde doch viel besser und nach einer Weiterentwicklung klingen.“

„Jupp, du hast recht, aber es ist ja noch nicht zu spät. Denn noch ist es keine ISO-Norm, sondern nur ein europäischer Standard. Aber erzähle doch mal von deinem Qualitätsurteil über die Grüne Woche. Du  gehst doch immer auditmäßig vor.“

„Ja, was soll ich sagen, Ingo. Wie immer erschlägt sie einen durch ihre schiere Masse. Ich erinnerte mich plötzlich an einen Besucher aus der damaligen DDR in München, kurz nach dem Mauerfall. Wir waren in einer Fußgängerzone unterwegs und er suchte verzweifelt nach einem Mitbringsel für seine Familie. Da kamen wir an einen Teeladen vorbei. Genau das Richtige für ihn, sagte er und stürmte hinein. ,Einen Tee, bitte.‘ - ,Ja gerne, was für einen Tee wünschen Sie denn?‘  - ,Ja,. So einen einfachen Tee zum Trinken, bitte. Welche Sorte haben Sie denn?‘ - ,Mein Herr, wir haben vier­hundert Teesorten im Angebot. Die alle aufzuzählen, das würde bis heute abend dauern.‘ Panikartig stürmte mein Gast aus dem Laden und fragte mich fassungslos: ,Wofür in aller Welt braucht ihr vierhundert Teesorten? Wir haben meistens nur eine Sorte, und die auch nicht immer.‘ Ich konnte ihm die Frage nicht beantworten und dachte an die vielen Hundert Brot-, Bier- und Käsesorten in meinem Supermarkt. Er hatte recht. Waren wir durch die tolle Auswahl jetzt glücklicher als er? Eigentlich nicht. Wir hatten dafür jetzt die Qual der Wahl und ständig das Gefühl, dass wir ein Schnäppchen übersehen hatten.“

„Jupp, das ist wie bei den Reichen. Hundertmal mehr Geld heißt nicht hundert mal mehr Glück, vielmehr vermehren sich deine Sorgen. Hast du das gehört, vom Davos-Treffen?  Die 85 reichsten Menschen der Erde besitzen zusammen genau soviel wie die ärmste Hälfte der Welt, das sind 3,5 Milliarden Menschen.“

„Ich weiß, Ingo, ich weiß. Ich habe auch kräftig zu deren Reichtum beigetragen. Wenn du dir die Top Ten der Reichen anschaust, dann weißt du, was ich meine: Nr. 1 ist Bill Gates, dem habe ich viel Geld für meine Microsoft-Lizenzen gegeben. Die Nr. 3 ist Warren Buffet. Der hat einen größeren Teil meiner sauer verdienten Altersversorgung bekommen.  Und die Nr. 5, Ingvar Kamprad, hat sich dumm und dusselig mit meiner IKEA- Ausstattung in der Wohnung verdient.“

„Aber die leiden bestimmt jetzt auch unter dem Hedonic Treatmill Effect, den Rolf Dobelli beschrieben hat. Jupp, also das ist so: Wenn du plötzlich mehr Geld verdienst oder im Lotto gewinnst, solltest du ja eigentlich darüber glücklich sein. Bist du sicherlich auch am Anfang, und du wirst tagelang mit einem fröhlichen Gesicht herumlaufen. Doch nach drei Monaten wirst du wieder genauso glücklich oder unglücklich sein wie vor dem großen Geldsegen. So, als ob nichts gewesen wäre. Materielle Dinge haben immer nur einen kurzfristigen Effekt auf unser Wohlbefinden. Nachhaltige Glücksgefühle findet man ganz woanders. Die Chinesen haben es mal wieder sehr schön in einem Sprichwort ausgedrückt:

  • Wenn Du eine Stunde lang glücklich sein willst: Schlafe!
  • Wenn Du einen Tag lang glücklich sein willst: Gehe fischen! 
  • Wenn Du eine Woche lang glücklich sein willst: Schlachte ein Schwein und verzehre es!
  • Wenn Du einen Monat lang glücklich sein willst: Erbe ein Vermögen!
  • Wenn Du ein Leben lang glücklich sein willst: Liebe Deine Arbeit!“

Die Vorlage ließ sich Jupp nicht entgehen: „Na klar, und wenn Du fünf Minuten glücklich sein willst: Sex! Aber mal ernst, Ingo. Der Monarch des Königreichs Bhutan, eines der ärmsten Länder der Erde, hat das gut erkannt: Er will für sein Land das Beste und Bruttonationalglück ist ihm wichtiger als das Bruttoinlands­produkt: kein Ausschlachten von Ressourcen, kein Streben nach Wohlstand. Stattdessen will er seinen Untertanen die Möglichkeit geben, ein erfülltes Dasein auf Grundlage der buddhistischen Werte zu leben.“

„Ich erinnere mich, Jupp, ich habe mal einen Auszug aus seiner Rede gelesen und ihn mir ausge­schnitten. Hier, hör mal: ,In einer sich verändernden Welt stehen wir vor großen Herausforderungen. Denn die Globalisierung kennt weder Frieden, Sicherheit noch Glück. Aber eben dies sind die Pfeiler unserer Philosophie der nationalen Glückseligkeit. Daher werden wir den Wandel nur so weit führen, dass der Frieden unserer Nation, deren Glück und die Sicherheit gewährleistet bleiben.‘“

„Schöne Rede, Ingo. Frieden, Sicherheit und Glück. Fast so gut wie die ganzen weihevollen Huldigun­gen der Politiker und Funktionäre auf der Grünen Woche. Trotz der ständigen Lebensmittelskandale ist bei uns alles bestens. Nur, heftig gestört wurde diese Idylle durch die Vorstellung des Kritischen Agrarberichts, ein 300 Seiten starkes Dokument der erschreckenden Realität. Das Motto der Grünen Woche, ein „Festival der Sinne“, sollte man endlich realitätsnah auffassen und umsetzen.“

Oh, je. Jetzt fängt Jupp bestimmt wieder mit seinen berühmt-berüchtigten Visionen an. Und ich wurde nicht enttäuscht:

„Also, Ingo, ich stelle mir die realistische Grüne Woche so vor: Am Eingang stehen riesige Körbe mit süßen kleinen Küken, welche die Kinder streicheln dürfen. Aber dann müssen sie schockiert erkennen, dass die Küken lebendig in die Schredder gekippt werden, weil sie leider das falsche Geschlecht haben. Es geht weiter in einen Gang mit Hunderten von Mastkälbern, in engen Ställen, statt Stroh nur Spaltenböden, wo die Sch... durchfällt. Wegen des Mottos ,Festival der Sinne‘ begleitet dich jetzt ein grauen­hafter Güllegestank.“

„Ab und zu findest du auch einen verirrten Gaul zwischen den Kälbern, nicht wahr, eventuell auch mal eine Antilope. Da kannst du deinen fernsehverwöhnten Kindern auch mal Tiere in Echt zeigen.“ Die Unterbrechung musste sein. Wenn schon Visionen, dann will ich mich auch mal dran beteiligen.

„Und für den Ohren- und Augenschmaus findest du als Highlight im Zentrum das Schlachthaus. Gacker­nde Hühner und brüllende Rinder vor der Liveschlachtung im Sekundentakt. 27.000 Hähnchen pro Stunde. Jeder darf auch mal ein Rind mit dem Bolzenschußgerät töten. Die Jungens finden das bestimmt hundertmal aufregender als die ewigen Egoshooter-Videogames. Am Ausgang der Messe stehen dann die großen Verwurster und Fleischwölfe, die für die Besucher Leberwurst und Frika­dellen produzieren, gut gemixt mit Schlachtabfällen und raffiniert gewürzt mit Glutamat und diversen Aromastoffen, damit man den Gestank von den Resten von der Vorwoche nicht schmeckt.“

„Meine Güte, Jupp, du hast ja eine krankhafte Fantasie. Ich stelle mir gerade mal vor, was du anrichten könntest, wenn du eine Krankenhausmesse mal realistisch ausstatten müsstest: Am Ausgang findest du dann die mit multiresistenten Keimen infizierten Patienten, mit wackelnden Hüftprothesen, mit auf der falschen Seite amputierten Beinen, mit medikamentös erzeugten gravierenden Nebenwirkungen, mit auslaufenden Brustimplantaten, … und was man sich sonst alles an Horrorergebnissen von Diagnostik und Therapie vorstellen kann. Ich wage mir gar nicht auszumalen, was du drinnen an den Ständen alles inszenieren würdest.“ 

„Guck mal an, Ingo, du hast ja ebenfalls eine blühende Vorstellungskraft. Meine Visionen hätten zumindest eine pädagogische Wirkung: Die Verbraucher von Lebensmitteln und die Patienten im Krankenhaus würden ihre Illusionen verlieren und zu einem besser abwägenden Verhalten veranlaßt. Und sie würden endlich merken, dass die sogenannten Experten auch nur mit Wasser kochen. Und oft ist das sogar ziemlich dreckig.“

„Ja, ja , die Experten. Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt explodiert, wird die Stimme eines Experten sein, der sagt: ‚Das ist technisch unmöglich‘. Das hat Peter Ustinov mal gesagt. Oh, die Zeit vergeht so schnell. Jetzt muss ich leider los. Ich habe heute abend noch einen Termin bei meinem Steuerberater, auch so ein Experte. Also, tschüss Jupp, bis zum nächsten Mal. Und dann erzählst du mir deine Horrorstories von den Lebensmitteln erst nach dem Essen bitte.“

„Du willst schon gehen? Du bist ja ein getriebener Mensch. Merke dir mal, Ingo: Die Sklaven von heute werden nicht mit Peitschen, sondern mit Terminkalendern und Smartphones angetrieben.“ 

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