Wanderer zwischen zwei Welten
von Ingo Nöhr
Ingo Nöhr zum 1. Januar 2024
Zum Neujahrstag 2024 treffen sich die pensionierten Krankenhaustechniker Ingo und Jupp wieder überraschend zu einem Stammtisch in ihrer Eckkneipe. Vorher hatten sie zehn Jahre lang am Monatsersten allgemein über die Welt und speziell über das deutsche Gesundheitswesen diskutiert. 120 Gespräche wurden getreulich vom Chronisten aufgezeichnet, dann war plötzlich das Feuer erlöschen. Zu viele Krisenherde überforderten beide mit ihren unterschiedlichen Weltanschauungen. Danach hatten sie sich die letzten zwölf Monate in ihre Häuser zurückgezogen und isoliert vom Weltgeschehen von einem alternativen Leben geträumt. Nun treffen sie nach langer Zeit wieder aufeinander und erzählen sich gegenseitig ihre Erfahrungen.
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Hallo, mein lieber Ingo. Ich bin sehr froh, dich wieder zu sehen. Wie geht es dir? Ich habe dich immer wieder mal vermisst.
- Genauso erging es mir auch, lieber Jupp. Ich bin sehr gespannt, wie es dir mit deinem Ex-Nachbar und Untermieter Oleks ergangen ist.
Ja, da gibt es viel zu erzählen. Aber du hast dich äußerlich verändert, Ingo. Ein paar Pfunde weniger stehen dir sehr gut. Du strahlst auch eine gesunde Abgeklärtheit aus.
- Ich muss sagen, Jupp, die Ernährungsumstellung auf mein Gartengemüse und wenig Fleisch hat mir sehr gutgetan: keine Allergien mehr, die Arthrose-Signale sind verschwunden. Ich habe seit unserem letzten Treffen eine sehr glückliche Zeit verlebt.
Das freut mich sehr, Ingo. Ich hatte schon Angst, dass ich dich Ende 2022 mit meinem Katastrophen-Pessimismus angesteckt hätte. Hast du denn keine Langeweile empfunden, ohne die aufregenden Nachrichten, deiner Suche nach dem Phönix-Vogel und dem Guten im Schlechten?
- Gar nicht Jupp. In meinen therapeutischen Garten haben sich schon gleich zu Anfang viele Freunde zur Pflege der Kräutergärten und zur geistigen Erholung eingefunden. Ich kann über mangelnde Gesellschaft nicht klagen und habe mich seitdem in die Welt der Autisten und Demenzkranken eingefunden. Faszinierend, sage ich dir, vor allem wie Blinde mit der Welt zurechtkommen. Zu meinem Schaf fürs Rasenmähen hat sich nun auch ein Therapiehund gesellt und die beiden sind die besten Freunde. Nun sag, was ist aus deinem Oleks geworden. Hat er schon deinen Atombunker fertiggestellt? Glücklicherweise ist der Atomschlag und der Super-GAU ja ausgeblieben.
Oleks hat sich bestens entwickelt, seit er dem Dunstkreis der Verschwörungsfreunde entkommen ist. Er ist zwar immer noch nicht gegen Corona geimpft, dafür aber gegen Gürtelrose und Grippe. Der Bau des Atombunkers ist auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben worden. Sein Sinneswandel kam schlagartig, nachdem er eine nette ältere Dame kennenlernte, die wie du nicht in einer radioaktiven Wüste überleben wollte. Doris lebt jetzt bei uns und hat uns Männer und unser Haus in kurzer Zeit auf Vordermann gebracht. Wir verfügen nun über eine exzellente Gästewohnung im Keller, mit allem sanitärem Komfort, inklusive einer Sauna. Zudem kann ich dir anstelle des Atombunkers eine kleine Gartenkneipe mit Wärmepumpe, PV-Anlage und eigenem Brunnen anbieten. Wir müssen nicht mehr in Urlaub fahren, sondern haben alles zu Hause. Die Dänen sagen dazu: Hyggelig.
- Ja Urlaub. Jupp, da sprichst du ein spannendes Thema an. Warte nicht, bis das Leben zu dir kommt, sondern lebe dein Leben. Im Nachhinein waren Urlaubsreisen doch immer eine kurzzeitige Flucht vor unserem armseligen Leben in einer Tretmühle. Wir haben uns zur psychischen Wiederaufbereitung in die exotischen Touristenghettos begeben, mit dem Kitzel, dass wir bei einer Exkursion kurz in das landestypische Elend der Bevölkerung werfen konnten. Aber mit dem sicheren Gefühl, dass wir nach einigen Tagen wieder auf unsere angebliche Insel der Seligkeit zurückziehen können, deren Wohlstand mithilfe von den Millionen billiger Tagelöhner aufrechterhalten wird. Ich vermisse diese Reiserei nicht mehr, seit ich den Kosmos in der Natur um mich herum erlebe. Du hast deine alternativen Welten in Büchern gefunden, wie ich mich erinnere. Bist du nun nach dem Studium unzähliger Krimis genialer Kriminologe geworden?
Möglicherweise ja, Ingo. Aber ich habe neben der Literatur mein Spektrum auf andere Kulturbereiche erweitert: die schönen Künste wie Musik, Theater, Malerei, Bildhauerei. Damit habe ich am zweiten Weihnachtstag meine buckelige Verwandtschaft tiefgreifend verstört, die plötzlich und unangemeldet an meiner Tür klingelte. Angeblich aus familiärer Fürsorge, aber eigentlich wollten sie sich nur überzeugen, ob ich überhaupt noch lebe und nicht als Messie versumpft bin. Vermutlich haben sie sich schon Sorgen um das Erbe gemacht.
- Na klar, Jupp. Mit deinem Haus und deinem Grundstück in bester Lage bist du eine lukrative Investition in die Zukunft – für die Erben. Die haben doch bestimmt gestaunt über deinen Lebenswandel und den Bevölkerungszuwachs.
Du hättest die Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern erleben sollen, als sie mitbekamen, dass mich überhaupt keine Nachrichten aus der Welt mehr erreichen: Krieg in Ukraine (wie, immer noch?), Massaker in Israel und Bombardierung des Gazastreifens (alttestamentarische Rache?), Inflation und Explosion von Gas- und Strompreisen (merke ich kaum mit meiner PV-Anlage und Wärmepumpe), Bildungskatastrophe und Fachkräftemangel (nichts Neues!). Überall Populisten an der Macht (Trump wird wieder Präsident? – beschleunigt nur den Niedergang der USA), Ampel-Koalition abgewirtschaftet (der Vertrauensverlust in die Politik ist doch ein alter Hut). So ging das stundenlang – Horrormeldungen pur. Und ich? Ich habe nur gegrinst und mir innerlich gedacht: Seid Ihr doch selbst in Schuld, wenn Ihr in einem solchen Sauhaufen leben und nichts ändern wollt. Kein Mitleid. Ich habe sie dann rausgeschmissen, als sie aggressiv wurden. Ich lasse mir doch die letzten wertvollen Tage meines Lebens nicht mit schlechter Laune vermiesen.
- Da hast du richtig gehandelt, Jupp. Ich hatte ein vergleichbares Erlebnis, als vorgestern zu Silvester ein paar ehemalige Krankenhauskollegen vorbeischauten, ebenfalls unangemeldet. Als sie meine Truppe im Therapiegarten sahen, glaubten sie, dass ich meine Rente mit sozialer Schwarzarbeit aufbessern müsste. Wie? Ehrenamtlich? Freiwillig? Sie jammerten über das Krankenhaussterben, den zunehmenden Mangel an Ärzten und Pflegepersonal, Kinder- und Altersarmut, Amokläufe in Schulen, die arbeitsunwillige Generation Z, Angriffe auf Rettungsdienste und Feuerwehren, den Totalverschleiß bei der Bahn und im Straßenverkehr, die Klimakatastrophe – und prophezeiten, dass die AFD an die Regierungsmacht kommen wird. Jupp, darüber haben wir uns doch viele Jahre unterhalten – aber alle haben weggeschaut und uns nicht ernst genommen. Jetzt kommen wegen der Untätigkeit alle Krisen auf einmal – und Regierungen und Politiker sind völlig überfordert. Ich habe meinen Kollegen empfohlen, die 120 Protokolle unserer Gespräche der letzten zehn Jahre mal nachzulesen. Und sie dann auch höflich verabschiedet. Mit der Ausrede, dass ich mein Schaf und meinen Hund vor der Knallerei in Sicherheit bringen muss. (Wie, du hast ein Schaf?)
Ingo, da ich mich ja nun zu den Belesenen zählen darf, möchte ich dir von einem Trend berichten, der in den USA vor fünfzig Jahren zur Zeiten des Kalten Krieges zu beobachten war: das Bedürfnis, nach innen zu gehen, wenn draußen alles zu rau und erschreckend wird: „Sich mit einer Schutzhülle zu umgeben, damit man nicht einer schlechten, unberechenbaren Welt ausgesetzt ist – jenen Widrigkeiten und Angriffen, die von unhöflichen Kellnern, Lärmbelastung und Luftverschmutzung bis hin zur Drogenkriminalität, Wirtschaftsrezession und Aids reichen.“ Die Trendforscherin Faith Popcorn beschreibt diese Reaktion in ihrem Buch „Der Popcorn Report“ von 1991 als Cocooning: „Das Kokon-Dasein bedeutet Isolierung und Vermeidung, Friede und Schutz, Geborgenheit und Kontrolle – eine Art überdimensionaler Netzbau.“
- Interessant, Jupp. Haben wir das nicht auch kürzlich während der Corona-Pandemie erlebt? Wir mussten uns erzwungenermaßen zu Hause einnisten. Aber dann kam der Impfstoff und alle verfielen wieder in den alten Trott. Nun, einige haben sich vielleicht doch etwas geändert. Viele Menschen möchten keine Nachrichten im Fernsehen und den Pressemedien mehr schauen, weil sie davon mental heruntergezogen werden. Die Unterhaltungsmedien bieten ja unzählige positive Berieselungs- und Entspannungsmöglichkeiten. In der Virtual Reality der Games können sie dann als unkaputtbarer Supermensch oder Feldherr die böse Welt besiegen.
Eine Ausweitung des cocooning sehe ich im sogenannten clanning – die Flucht in eine Gruppenzugehörigkeit. Menschen flüchten sich zwecks Rückzugs aus der brutalen Realität in ihre Blasen im Internet, in die Chatgruppen oder auch Fußballvereine. Wusstest du das, Ingo? Borussia Dortmund hat 168 Tausend Vereinsmitglieder, der FC Bayern München 295 Tausend und sogar der Deutsche Alpenverein zählt 180 Tausend zahlende Anhänger. Verstörende Nachrichten sind dort nicht zu erwarten, außer bei Niederlagen ihres Lieblingsvereins. Die großen Kirchen haben durch die Missbrauchskandale ihr Vertrauen als sichere Fluchtburg weitgehend verspielt.
- Jupp, jetzt stell dir mal vor: In der Zeitenwende der Polykrise wendet sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung vom öffentlichen Geschehen ab und fokussiert sich wie wir auf ihre innere Welt, soweit sie sich das finanziell erlauben kann. Was hätte das für Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, auf unsere Wirtschaft und unsere Politik? Ist da vielleicht unsere Generation Z mit ihrem veränderten Work-Life-Balance Verständnis schon auf dem Weg? Die „Fridays for Future“? Die Klimakleber der „Last Generation“? Da ist ja nicht mehr das klassische Verständnis von einer wirtschaftlich erstrebenswerten Zukunft mit unbegrenztem Wachstum zu finden.
Und nicht zu vergessen, Ingo: die heutigen Kids wachsen mit einer unglaublich leistungsfähigen Künstlichen Intelligenz auf, die unser heutiges Wirtschaftssystem komplett umkrempeln könnte. In Verbindung mit den Robotik-Technologien entstehen neue Dienstleistungen, neue Berufe, neue Erwartungshaltungen. Denk mal nur zurück an die disruptiven Einflüsse des Smartphones! Wir erleben neue Erscheinungsformen von Kreativität im Geschäftsleben und in der Kultur, gespeist aus dem digitalen Ozean von Millionen menschlicher Ideen und Produkten.
- Jupp, ich glaube, das können wir uns noch gar nicht vorstellen. Mir fällt auch auf, dass wir beide in unserer realitätsalternativen Zufriedenheit kaum noch eine Unterscheidung zwischen optimistischen und pessimistischen Ansichten treffen können. Wir haben einfach den Endpunkt unserer Zufriedenheit erreicht und beobachten nun interessiert und staunend die bevorstehenden Revolutionen um uns herum. Wer hätte das am Anfang mal gedacht?
Und ganz wichtig, Ingo: Dennoch sitzen wir hier in unserer traditionellen Insel der Stabilität mit dem altehrwürdigen Schmiermittel und rufen begeistert: „Herr Wirt, bitte zwei Bier!“
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Habe stets ein Ohr für die Vergangenheit,
ein Auge für die Zukunft
und ein Lächeln für den Augenblick.
(Stefan Radulian (*1979), österreichischer Student, Aphoristiker und »verträumter Realist«)
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