Alle anzeigen

INGOs NÖHRgeleien Oktober 2021

von Ingo Nöhr

Unsere Krisen - Kommt jetzt der Anfang vom Ende oder das Ende vom Anfang?

Ingo Nöhr zum 1. Oktober 2021

Das tägliche Leben hält für den deutschen Bürger wieder permanente Aufreger bereit. Afghanistan-Debakel, historischer Regierungswechsel, Tornado in Kiel, Vulkanausbruch auf La Palma, neuer James Bond Film. Die Briten haben aus Brexit-bedingtem Mangel an LKW-Fahrern das geplante Ende der Diesel- / Benzin- Ära anscheinend von 2030 auf heute vorverlegt.

Die Corona-Lage entspannt sich gerade – trotz Warnungen vor einer vierten Welle im kommenden Winter. Die Covid-19 Zertifikate gelten für Geimpfte 12 Monate, für Genesene unerklärlicherweise aber nur 6 Monate. Macht aber im Notfall nichts, im Internet gibt es schließlich gefälschte Impfpässe zu kaufen. In NRW fahndet man jetzt mit hohem Aufwand nach den Fälschern von Hunderten von Impfpässen. Nach der Einführung der 2G-Regel haben ungeimpfte Kinder unter 12 Jahren keinen Zutritt in Geschäfte und Gaststätten. In Berlin wollen 56% der Wähler, die dazu oft mehrere Stunden im Wahlchaos warten mussten, die großen Wohnungsunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen enteignen. Dummerweise würde der Rückkauf von 220.000 Wohnungen etwa 30-40 Milliarden Euro kosten und damit das gesamte Berliner Haushaltsvolumen des Jahres 2021 übersteigen.

Unsere beiden Krankenhausrecken sind noch total benommen vom spannenden Wahlabend und seinen Ergebnissen.

Hallo Ingo, wir sind jetzt mit der Rekordzahl an geballter Kompetenz von 735 Abgeordneten ausgestattet. Damit leisten wir uns das zweitgrößte Parlament der Welt. Zugegeben, hier müssen wir noch etwas aufstocken, um den Weltmeister China mit fast 3.000 Abgeordneten zu entthronen. Übrigens: hast du das Instagram-Selfie vom jugendlichen Verhandlungsteam der FDP und Grünen gesehen? Ihre Botschaft lautet: Wer unter uns Kanzler werden will, muss jetzt unsere Bedingungen erfüllen.

  • Jupp, wer hätte sich dieses Szenario vor kurzem noch vorstellen können: die ehemaligen Volksparteien müssen jetzt bei den vorher belächelten Miniparteien FDP und Grüne um Ministerposten betteln, weil diese bei der Wahl mehr Stimmen als Union und SPD geholt haben. FDP-Generalsekretär Volker Wissing beschreibt das Dilemma der Politik in wenigen Worten: Die Menschen wollen nicht, dass der Klimaschutz unseren Wohlstand zugrunde richtet. Sie wollen aber auch nicht, dass unser Wohlstand unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstört. Diese zwei Perspektiven, die beide ihre Berechtigung und ihre Bedeutung haben, müssen zu einem guten Regierungsprogramm zusammengeführt werden.“
    Du siehst, wir leben zunehmend in disruptiven Zeiten: Brexit-Chaos, Corona-Pandemie, Ahrtalfluten, Afghanistan, Wahlausgang und vieles mehr.

Ingo, ich muss leidvoll zugeben: du hattest 2018 recht. Ich darf mal aus unserem damaligen Gespräch zitieren: „Die Statuen unserer Mächtigen stehen auf sehr wackeligem Boden, wenn schon eine kleine Erschütterung das Fundament ins Wanken bringen kann. Daher sollte man besser auf dem Höhepunkt seines Ruhms noch rechtzeitig abtreten, um als Lichtgestalt in die Geschichte eingehen zu können. Aber kein Abschied auf der Welt fällt schwerer als der Abschied von der Macht. Helmut Kohl und Angela Merkel haben den passenden Absprungspunkt verpasst.“ Vor exakt drei Jahren hast du mit mir über disruptive Politik gesprochen. Jetzt erleben wir sie live.

  • Jupp, die disruptive Entwicklung war schon viel früher abzusehen. Schau mal in unseren Aufzeichnungen vom Juli 2016, als wir die sogenannten Pfadabhängigkeiten betrachtet haben. Du erinnerst dich vielleicht an meine Behauptung, dass die Maße des Spaceshuttles von einem römischen Pferdehintern bestimmt wurden – eine 2000 Jahre alte Abhängigkeit eines Weges. Meine Prognose lautete vor fünf Jahren: „Die nunmehr durch ihre Größe stabil etablierten und gut vernetzten Institutionen schotten sich aus Machtgier und Gewinnsucht der Führungselite zunehmend von der normalen Bevölkerung ab. Sie produzieren dadurch immer mehr Unzufriedenheit, zum Beispiel durch eine überbordende Bürokratie, steigende Kundenferne und sinkende Leistungsbereitschaft.“

Ingo, was hat das Letzte jetzt mit der Pfadabhängigkeit zu tun?

  • Jupp, hier spielen die Verlierer der Pfadabhängigkeit die entscheidende Rolle. Die bislang kaum organisierten Frustrierten finden plötzlich ein gemeinsames Sprachrohr: Donald Trump in den USA, Marie Le Pen in Frankreich, Boris Johnson in Großbritannien, die AFD in Deutschland. Ein Auslöser für die PEGIDA-Bewegung war die unterschwellige Fremdenangst vieler Bürger, die sich durch die Sozialleistungen für Migranten benachteiligt sahen. Es sind die Ergebnisse von erfolgreichen Attacken der Verlierer gegen die Pfadabhängigkeit der Politik. Die großen Banken, Industrie- und Medienkonzerne sind durch Vernetzungen und Globalisierungen so mächtig geworden, dass gegen sie nicht mehr regiert werden kann.

Stimmt, das haben wir schon damals festgestellt. Die ehemaligen Volksparteien haben die Bodenhaftung verloren und damit Vertrauen in die Volksvertretung zerstört. Es wächst das Heer der bislang nichtaktiven Unzufriedenen und Wahlverweigerer, bis es plötzlich eine kritische Masse erreicht und sich durch einen charismatischen Sprecher koordiniert zu einer Opposition zusammenfindet. Dann wird nur noch emotional und nicht mehr rational entschieden, wie der Brexit deutlich gezeigt hat. Und nun ist die Opposition plötzlich größer als die regierende Macht geworden und die behäbigen Kanzlermacher reiben sich verwundert die Augen.

  • Unser Starphilosoph Prof. Peter Sloterdijk sagte kürzlich in einem Interview mit dem Podcaster Gabor Steingart: „Politik braucht bühnenfähige Charaktere. Ich bin in der peinlichen Lage als Rechthaber auftreten zu dürfen. Schon vor zwei Jahren habe ich darauf hingewiesen, dass es mit Laschet nicht funktionieren kann, weil hier ein Formatfehler vorliegt, der in politischen Angelegenheiten sehr schwer wiegt: die völlige Abwesenheit von Charisma und Ausstrahlung. Christian Lindner ist der Prototyp eines lernenden Politikers: Jemand, der im ständigen Stoffwechsel mit seiner Umgebung steht.“

Das hat aber bei unserer grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock nicht so durchschlagend funktioniert. Sie ist ja in den Umfragewerten kontinuierlich abgesackt.

  • Für die plötzliche Übergabe ihrer Machtposition an Robert Habeck hat er eine schonungslose Erklärung: „Wir haben eine Politikergeneration, die ausnahmslos Selbsterfinder sind. Das gilt natürlich vor allem für eine Person wie Annalena Baerbock, bei der man das Gefühl hat, dass der Übergang von einer Schülersprecherin zu einer Kanzlerkandidatin doch ein bisschen zu abrupt erfolgte.“

Ich erinnere mich daran, dass du seit etlichen Jahren das politische Versagen des Systems vorhergesagt hast. Permanent hast du mich mit dem bevorstehenden Knall und dem Aufstieg des Phönix aus der Asche genervt. Ist es nun so weit? Haben wir den kritischen Punkt erreicht?

  • Jupp, ich bin es langsam leid, Apokalyptiker zu sein, weil es langsam zu einer Modewelle ausartet. Max Frisch sagte mal: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Ja, ich glaube schon, dass wir kurz vor dem Wendepunkt stehen, auch wenn es keinen kompletten Zusammenbruch der Systeme geben wird. Bei der Corona-Pandemie und den Klimawandelfolgen haben wir nun auch die disruptiven Schläge am eigenen Leib erfahren. Nebenbei, wir jammern auf einem extrem hohen Niveau. Für viele auf der Erde ist die Apokalypse längst tägliche Realität: Eine Milliarde Menschen hungern, drei Milliarden leben von weniger als zwei Dollar am Tag.

Ingo, der geplante Qualitätsaufschwung des globalen Millenium-Porgramms hat leider nicht vollständig geklappt. Wir beide haben dann 2013 erkannt, dass wir uns nunmehr auf das Risikomanagement konzentrieren müssen, nachdem wir festgestellt hatten, dass wir das perfekte Qualitätsmanagement nicht finanzieren können. Die nächste Modewelle würde dann wohl das Krisenmanagement darstellen, welches schluss­endlich vom Management der Katastrophen abgelöst werden muss.

  • Jupp, du fandest damals in ein passendes Zitat dazu: „Ich habe einfach keine Zeit, den Zaun zu reparieren, denn ich muss ständig die entlaufenen Kühe einfangen.“

Ingo, ja, das ist die ständige Ausrede für die Vernachlässigung unserer Infrastruktur in Deutschland. Dazu passt gerade die aktuelle Meldung über einen Umrüstungsauftrag der Funktechnik bei der Bundeswehr. Dort ist ein Digitalisierungsprojekt für 90.000 IP-fähige Funkgeräte nach zehn Jahren Entwicklung krachend gescheitert. Nun soll der französische Rüstungskonzern Thales für 600 Millionen Euro 30.000 neue Geräte bis 2035 liefern. Aber nicht etwa mit digitaler Technik! Nein, die Firma soll die uralten Funkgeräte aus den 1980ern identisch nachbauen, weil es für diese kaum noch Ersatzteile gibt. Damit soll die weitere Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleistet werden. Für die nächsten zehn Jahre mit 40 Jahre alter Technik.

  • Unfassbar, aber für mich nachvollziehbar. Weil man die Digitalisierung komplett verschlafen hat, ist keine Zeit mehr, den Schritt zur echten Problemlösung zu wagen. So auch im Bildungswesen, im Justizwesen und im Gesundheitswesen. Überall muss man hektisch Provisorien installieren. Dabei hätten die Verantwortlichen anfangs die Sinnhaftigkeit von Corona-Schutzmaßnahmen intelligenter und ohne widerstandserzeugende Drohgebärden kommunizieren können.  

Ingo, die Anschnallpflicht im Auto wurde damals auch nur durch Bußgelder wirksam umgesetzt. Für die Impfunwilligen wird es ab diesem Monat auch richtig teuer, wenn die Kostenpflicht von Schnelltest flächendeckend umgesetzt wird. In den USA geht es mit der Impfpflicht drastischer zu. Bei den United Airlines droht 600 Impfverweigerern die Entlassung.

  • Es sollte die Querdenker langsam nachdenklich machen, dass auf den Intensivstationen fast nur noch Ungeimpfte liegen. Überhaupt würde ich heutzutage einen möglichst großen Bogen um Krankenhäuser machen, nachdem ich kürzlich eine Oxford-Studie über die Situation in Londoner Krankenhäusern gelesen habe. Das Team von Jie Zhou hat während des Covid-19 Peaks im April 2020 untersucht, was in den neu aufgestellten Luftfiltern hängengeblieben ist: neben Covid-19 Viren auch Pilze, Fäkalienkeime, Staphylokokken aller Art, Herpes, Grippe und ein Dutzend anderer Erreger. Nach dem Abschalten der Filter waren sie alle wieder da und schwebten in der Atemluft.

Das ist ja ekelhaft, Ingo. Also als Patient, Besucher oder Mitarbeiter solltest du dich in deiner Klinik besser nur noch mit einer FFP2-Maske aufhalten.

  • Wie ist es denn überhaupt soweit gekommen? Im einem SPIEGEL-Interview vergleicht der Politikwissenschaftler Christoph Meyer das Pandemie-Management in Deutschland und Großbritannien. Krisen sind disruptiv und erfordern ein Ausbrechen aus alten Mustern. In der Pandemie-Krise haben Angela Merkel und ihre Ministerpräsidenten einen Konsens mit der Wirtschaft, ihren Parteien und ihren Wählern gesucht, anstatt mutig ins Risiko gehen und die exponentielle Coronadynamik mit schmerzhaften Einschränkungen wirksam einzudämmen. An Beratern herrschte ein heilloser Wildwuchs, der sich in 21 Corona-Expertengremien in deutschen Landen austobte. Die Politiker konnten auswählen, wem sie zuhören und bestellten sich für ihre geplanten Maßnahmen das passende Expertenwissen. Zu Wort kamen meist nur die ausgesuchten Leute mit einer hohen Talkshow-Eloquenz, die störenden Kritiker hat man in den offiziellen Gremien ausgesondert.

Okay, Ingo. Die Politikberatung zur Krisenbewältigung war absolut unprofessionell organisiert. Wie wäre Meyer denn vorgegangen?

  • Er hätte das erfolgreiche Konzept der Briten kopiert: die Scientific Advisory Group for Emergencies, kurz SAGE genannt. Das ist ein kurzfristiger Zusammenschluss der besten und unabhängigen Wissenschaftler des Landes mit einem gemeinsamen Sekretariat. Sie beraten die Regierung je nach Notfall in Fachkomitees, zum Beispiel bei Flutkatastrophen, Nuklearunfällen, Aschewolken und eben Pandemien. Die Zusammensetzung ist völlig transparent und die Ergebnisse werden zeitnah und ohne politische Zensur gemeinsam als britische Expertenmeinung veröffentlicht.

Aber im letzten Herbst hat die Regierung von Boris Johnson die Ratschläge augenscheinlich nicht befolgt. Er wollte mit einem lockeren Shutdown die Pandemie kontrollieren und die Wirtschaft nicht belasten.

  • Für diesen Irrtum hat die britische Bevölkerung auch einen hohen Preis an vermeidbaren Coronatoten bezahlt. Und der totale Lockdown war später unausweichlich. Jetzt wird die SAGE-Expertise in der Person des Sprechers und Chefmediziners Chris Whitty so ernst genommen, dass er schon als „De-Facto-Primeminister“ bezeichnet wurde. Dafür zieht er mit seinem Kollegen, dem Chief Scientific Adviser Patrick Vallance bei unpopulären Maßnahmen alle Wut auf sich und beschützt dadurch die SAGE-Wissenschaftler vor persönlichen Angriffen.

Ingo, wir haben doch auch das Robert-Koch-Institut als Regierungsberater. Warum sollte man noch ein Expertengremium installieren?

  • Das RKI ist dem Bundesgesundheitsminister unterstellt und damit politischen Weisungen unterworfen. Erinnerst du dich nicht an den Konflikt des RKI mit der STIKO, der Ständigen Impfkommission, über die Covid-19 Impfung der Kinder unter 12 Jahren. Trotz des enormen politischen Druckes wollten die unabhängigen Wissenschaftler keine entsprechende Empfehlung aussprechen, weil in Deutschland bis heute noch kein Kind unter 17 Jahren ausschließlich an einer Covid-19 Erkrankung gestorben ist.

Und die Leopoldina-Akademie? Die ist doch unabhängig und interdisziplinär aufgestellt.

  • Das ist richtig, sie spielt auch eine wichtige Rolle in der Debatte, ist aber kein Ersatz für eine wirklich durchdachte, gut strukturierte Politikberatung auf Bundesebene. Wir sind in Deutschland hinsichtlich Krisenvorsorge und Prävention nicht gut aufgestellt, sondern benötigen dringend eine Art nationalen Sicherheitsrat auf Kabinettsebene. Die nächsten Naturkatastrophen, Cyberangriffe und Finanzkrisen kommen mit Sicherheit. Wir sollten vorausschauend planen und bei einer plötzlichen Krise nicht hektisch und unkoordiniert nach parteipolitischen Prämissen in 16 Bundesländern reagieren.

###

Es ist sinnlos zu sagen: Wir tun unser Bestes. Es muss dir gelingen, das zu tun, was erforderlich ist.

(Winston Churchill, 1874 – 1965)

 

Die Partei muss laufen lernen, sie muss sich zutrauen, in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen.

(CDU-Generalsekretärin Angela Merkel im Dezember 1999 im Zuge der Spendenaffäre)

 

In Krisenzeiten suchen Intelligente nach Lösungen, Idioten suchen nach Schuldigen.

(Loriot)

 

Weiterlesen …