Ingo Nöhr zum 1. Oktober 2022
Letzten Monat haben die beiden Krankenhausveteranen geschworen, sich vom Elend der gegenwärtigen Welt abzuwenden und lieber ihr Heil im Studium der Literatur beziehungsweise die Zuflucht im alternativen Landleben zu finden. Sie versprachen sich dadurch ein glücklicheres und erfüllteres Leben als sich ständig von den Katastrophenmeldungen der Medien stimmungsmäßig herunterziehen zu lassen. Ein schöner Plan und es wäre beinahe gut gegangen, … - ja, wenn da nicht wieder dieser querdenkende Ex-Nachbar wäre, der mit seiner Flucht in das gelobte Land Schweden spektakulär gescheitert ist … Und nun in einem Zelt fast vor der Haustür von Jupp campiert.
Guten Morgen Jupp, wie geht es dir? Du schaust etwas miesepetrig aus. Vor einem Monat hattest du doch beschlossen, Kriminologe zu werden – mit tatkräftiger Unterstützung von Father Brown, Hercule Poirot und Miss Marple. Was ist schiefgelaufen?
- Mein Nachbar ist mir dazwischengekommen – eigentlich beide: der neue Nachbar und mein verrückter Ex-Nachbar.
Ich erinnere mich. Dein Ex-Nachbar war doch auf dem Anticorona-Trip ins gelobte Schweden, wurde dort gleich eingelocht und ist als Ukrainer über Polen in den Vorgarten deines neuen Nachbarn geflüchtet.
- Ja, mit dem kleinen Unterschied, dass er nach einer wundersamen Transformation als deutscher Rentner hier angekommen ist. Er hatte sich schon häuslich in seinem Campingzelt auf Nachbars Rasen eingerichtet und ihm dafür sein Wohnmobil vermacht.
Warum hast du nun ein Problem damit? Er kann doch jetzt den neuen Besitzer mit seinen lustigen Verschwörungstheorien amüsieren.
- Ja, aber das klappt wohl nicht mehr. Als der neue Nachbar das Wohnmobil in Malmö abholen wollte, hat er sofort Ärger mit der dortigen Polizei bekommen. Sie bestehen darauf, dass der Fahrzeugbesitzer persönlich zu erscheinen, weil er mittlerweile zur Fahndung ausgeschrieben ist. Und zuhause ohne Wohnmobil, aber mit ausreichend Wut im Bauch, angekommen, hat er meinen alten Nachbar gleich samt Zelt und Krimskrams rausgeschmissen. Und rate mal, wo er jetzt untergekommen ist?
Man schwant, dass er sich dann einen gepflegten Rasen gleich nebenan für seinen neuen Wohnort ausgesucht hat und der gehört augenscheinlich meinem Freund Jupp, richtig?
- Man könnte meinen, du hast ihn dahingehend beraten. Er hockt also nun in meinem Vorgarten und friert sich fürchterlich einen ab, weil seine ganzen Klamotten noch in Malmö noch im Auto liegen.
Und du als herzensgute Seele hast es nicht übers Herz gebracht, ihn zu deiner Entlastung unseren städtischen Sozialeinrichtungen anzuvertrauen. Wohl, weil er ja steckbrieflich von Schweden gesucht wird. Und als Flüchtlingsukrainer kann er auch nicht mehr auftreten, weil er ja wieder zum deutschen Rentner mutiert ist. Spannende Geschichte, Jupp. Und wie soll es nun weitergehen?
- Ich weiß es nicht, Ingo. Er tut mir natürlich leid, und ihm ist das alles fürchterlich peinlich. Ich wollte ihn zu seiner Querdenkertruppe schicken, aber die sind wohl auch alle untergetaucht. Aus Dankbarkeit will er jetzt meinen Keller umbauen - kostenlos. Mit Gästezimmer, Bad und Toilette und so. Er meint, da könnte ich später bestimmt gut untervermieten.
Na ja, ein geschickter Handwerker scheint er ja zu sein, wenn man sich sein früheres Haus mal näher anschaut. Und du scheinst nicht ganz glücklich darüber zu sein.
- Ach Ingo, er will meinen Keller atombombenfest machen, Umbau zu einem Atombunker, verstehst du? Er erzählt mir permanent, dass Putin uns bald mit Atombomben angreifen wird, weil wir ihm die Ukraine und das Baltikum samt Polen nicht überlassen wollen. Im russischen Fernsehen wird wohl schon andauernd darüber debattiert.
Aha, einen Atombunker bei dir zu Hause. Lässt du mich denn im Ernstfall auch rein? Aber … ich weiß gar nicht, ob ich den Rest meiner Tage in einer atomar verseuchten Wüste verbringen will. Da verdampfe ich doch lieber gleich in einem Blitz.
- Ingo, ich glaube ja auch nicht, dass Putin Atombomben schmeißen wird, aber seine dusseligen Soldaten machen andauernd Kriegsspiele im größten Atommeiler Europas. Wenn der hochgeht, haben wir Tschernobyl und Fukushima auf einmal vor unserer Haustür. Da wird das nichts mit deinem schönen Tod in Mikrosekunden.
Jupp, erzähle deinem Nachbarn doch, dass wir in Deutschland über 2000 öffentliche Atombunker gebaut haben. Und wenn er sich die Katastrophen-App NINA auf seinem Handy installiert, wird er hoffentlich rechtzeitig vor dem Angriff und der nuklearen Verseuchung gewarnt. Auf unsere Sirenen würde ich aber da nicht vertrauen.
- Ingo, du bist nicht auf dem Laufenden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sagt, dass der Bund bereits 2007 mit den Ländern das frühere Schutzraumkonzept aufgeben hat. Derzeit gebe es keine funktionstüchtigen öffentlichen Schutzräume Von den 2000 Schutzräume für etwa zwei Millionen Menschen sind inzwischen noch etwa 1000 Anlagen übrig. Die werden aber seit Jahren vom Bund praktisch nicht mehr gewartet und nicht mehr funktionsfähig gehalten.
Na klar. Wir haben den Kalten Krieg durch die Wiedervereinigung beendet und wollten den Marxismus der Sowjetunion durch unseren gefälligen Kapitalismus ersetzen – Wandel durch Handel. Hat einerseits gut geklappt – Putin und seine Oligarchen gehören zu den reichsten Männern der Welt. Aber war das so gemeint? In der Kremlmauer entstehen schon überall Risse, weil Lenin in seinem Mausoleum immer schneller um seine Achse rotiert.
- Ja siehste, in Deutschland sind wir überhaupt nicht auf einen Atomschlag vorbereitet, da müssen wir schon rechtzeitig in die Schweiz oder die USA flüchten. Also hilft nur die Privatinitiative. Die BSSD, Bunker Schutzraum Systeme Deutschland bietet als Marktführer für viele Zehntausend Euro die Installation von atomsicheren Schutzräumen in hauseigenen Kellern an. Das Geschäft boomt gewaltig, es gibt schon lange Wartelisten. Und wenn mein Ex-Nachbar mir das umsonst aufbaut, hätte ich doch eine gewaltige Wertsteigerung, oder nicht?
Mag sein. In Wikipedia gibt es noch eine lange Liste militärischer Bunker. Aber bereite deinen Nachbarn darauf vor, dass ungeimpfte Verweigerer wohl schlechte Karten für eine Aufnahme im Schutzbunker haben werden.
- Das kennt er sicherlich schon, denn in mein Haus dürfen auch nur geimpfte Leute eintreten. So lange wird er wohl noch in seinem kalten Zelt hocken bleiben müssen. Und seine Alternative: auswandern in ein anderes sicheres Land? Da wird mal wohl junge Leute mit Ausbildung vorziehen und alte Rentner nicht mit offenen Armen aufnehmen wollen.
Wenn er schon so bauwütig ist, kann er sich ja als Soforthilfe für den harten Winter eine kleine Holzhütte um sein Zelt bauen, dann hat er es etwas wärmer.
- Bloß das nicht, Ingo. Weiß du denn nicht mehr, was für baurechtliche, hygienische und versicherungstechnische Vorschriften für solch eine Errichtung beachtet werden müssen? Nein, ich hoffe vielmehr, dass sich endlich mal einer von seiner alten Verschwörungstruppe meldet und ihn aufnimmt.
Wenn du Pech hast, hocken aber bald noch ein paar weitere Verschwörer auf deinem Rasen, halten dort Mitgliederversammlungen ab und beantragen politisches Asyl.
- Also Ingo, mir wird schon wieder schlecht. Können wir nicht das Thema wechseln? Wieweit ist denn dein Ausstieg aus der Zivilisation gediehen? Kann ich demnächst mein Obst und Gemüse auf deinem Biobauerhof einkaufen? Strickwolle von deinen Merino-Ziegen? Oder ziehst du dich als Eremit zum Meditieren in eine Höhle zurück?
Mal langsam, Jupp. Erstmal werde ich noch den Winter in meinem Zuhause abwarten. Nichts überstürzen. Ich habe gerade Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit gelesen. Sein Motto: „Dreimal hinsehen, einmal handeln. Junge Leute begreifen das nicht immer. Langsam und fehlerlos ist besser als schnell und zum letzten Mal.“ Ich habe von ihm gelernt: Nichts kann man voraussagen. Niemand kann begründen, warum alles so und nichts anders geschieht. Stärker als alle Voraussagen sind Zufall und Widerspruch. Und das verschafft mir eine innere Ruhe. Die Futurologen lagen schon immer daneben, wenn sie die gegenwärtige Situation einfach in die Zukunft extrapolieren. Denk an den Schwarzen Schwan von Nassim Nicholas Taleb.
- Aha, du hast jetzt die Langsamkeit entdeckt. Bedeutet das etwa, wir müssen unsere monatlichen Stammtischgespräche auf zwei bis drei Tage ausdehnen? Oder senden wir uns die Gesprächsfetzen wie die Spielzüge beim Fernschach über Monate per Email zu?
Nein, mein lieber Jupp, so ist es ja nicht. Du siehst, wir können uns im normalen Sprechtempo unterhalten, müssen uns aber nicht die aktuellsten Unglücksbotschaften um die Ohren schlagen. Wir wenden uns vielmehr der zeitlosen Philosophie zu und erheben uns damit über das tägliche Geschrei der Sensationen.
- Ja, ich merke schon, wir wandeln uns von den Beobachtern zu Denkern. Übrigens habe ich von meinem Gilbert Keith Chesterton mithilfe seines Sherlock Holmes nicht nur viel über die Kriminologie gelernt, sondern auch etwas Philosophisches für den Alltag. Da schmeckt das Bier doch viel besser. Besonders, wenn es mit Langsamkeit über unsere Geschmacksknospen rinnt, aaahh.
Ich stimme dir zu. Dann bestellen wir beim Wirt mal ein in angemessener Ruhe gezapftes Bier, für einen Prost auf unsere glückbringenden Nischen in der chaotischen Welt.
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Gilbert Keith Chesterton (1874–1936):
Unter all den denkwürdigen Dingen, die wir vergessen haben, ist der universalste und folgenreichste Lapsus der, welcher uns vergessen ließ, dass wir einen Stern bewohnen.
Wir mögen die Himmel erstürmen und neue Sterne ohne Zahl finden: Es gibt immer noch den neuen Stern, den wir nicht gefunden haben - jenen, auf dem wir geboren sind.
Dies ist die riesige moderne Irrlehre: die Menschenseele zu ändern, um sie den Verhältnissen anzupassen, anstatt die Verhältnisse zu ändern, um sie der Menschenseele anzupassen.