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INGOs NÖHRgeleien 2022

von Ingo Nöhr

Party auf der Titanic

Ingo Nöhr zum 1. Dezember 2022 (zum letzten Mal)

Am 1. Dezember wird seit über 30 Jahren der Welt-Aids-Tag gefeiert.  Eine Pandemie, die schon ziemlich in Vergessenheit geraten ist. Warum eigentlich? Jedes Jahr verzeichnet die WHO über eine Million Neuinfektionen. Täglich! Exakt die gleiche Größenordnung haben wir zurzeit global auch bei den Corona-Neuinfektionen – 1 Million pro Tag. Bei beiden Pandemien ist noch eine mehrfache Dunkelziffer zu addieren. Man gewöhnt sich anscheinend an alles mit der Zeit.

Allmählich tritt die Erkenntnis zu Tage (besonders herausgehoben durch den neuen Untermieter, Jupps flüchtigen Ex-Nachbar, genannt Oleks), dass man anfangs bei den Covid-19 Maßnahmen etwas heftig überreagiert hat, (in Bayern mit der Ausgangssperre Ende März 2020 sogar verfassungswidrig). Auch der Ethikrat übt reichlich spät ein bisschen Selbstkritik, weil er damals die Kinder und Jugendlichen „vergessen“ hat. Aber wie schon Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn vorausschauend erklärte: „Wir werden einander viel verzeihen müssen“.

Wie geht es den beiden Krankenhaus-Pensionären Ingo und Jupp, die sich zum Selbstschutz von den täglichen Medienmeldungen abgeklemmt hatten? Halten sie die Nachrichtensperre angesichts der laufenden Fußball-Weltmeisterschaft auch durch? (Schließlich hatten sie ja die letzten WMs von Mai bis August 2014 mit vielen Kommentaren und Vorschlägen begleitet). Nun wiederholt sich die Pleite im Juli 2018 und die Deutschen scheiden erneut in der Vorrunde aus. Was für eine Blamage!

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Hallo Jupp, wie weit hast du denn deinen Atombunker schon fertiggestellt? Mich interessiert mal, wie du den kalten Winter überstehen willst. Holst du dir ein paar Pelztiere zum Aufwärmen in die Höhle?

  • Ach Ingo, da spricht doch der pure Neid aus deinen Worten. Natürlich werde ich alle Technologien für erneuerbare Energien nutzen, also Photovoltaik, Windenergie und Wärmepumpe. Wenn du beim nächsten Blackout im Dunkeln vor dich hinbibberst, darfst du gerne zu mir reingekrochen kommen. Hast du denn schon vergessen, dass im November 2005 im Münsterland nach einem Schneesturm eine Viertel Million Menschen vier bis sechs Tage ohne Strom auskommen mussten?

Nein, Jupp, ich weiß das noch sehr genau, weil Verwandtschaft von mir auch betroffen war. Ich rechne sogar damit, dass Hacker unser Stromnetz angreifen könnten. Oder dass die komplexe Regelung der Energieverteilung mal kurzfristig zusammenbricht. Aber dafür habe ich Pullover, Mäntel, Decken, viel Wasser, Schwarzbrot in Dosen und eine große Salami im Haus. Deswegen buddele ich doch nicht meinen schönen Garten um.

  • Übertreibe mal nicht, Ingo. Wenn Oleks mit seinen ganzen Bauarbeiten fertig ist, kann ich ja auch so einen schönen Therapiegarten wie bei dir anlegen. Aber dann zahle ich kaum noch Strom- und Heizkosten. Ich muss mir aber überlegen, wie ich Oleks danach noch weiterbeschäftige. Einen Atombunker mit meterdicken Betonwänden möchte ich auch nicht im Garten haben.

Ich wüsste schon etwas, Jupp: Werde Selbstversorger mit Obst- und Gemüseanbau. Da hat man fast ganzjährig zu tun. Du wirst deine eigene Biokost zu schätzen wissen, wenn du einen Blick in die letzten Testergebnisse und Rückrufe von Lebensmitteln wirfst. Schaff dir noch ein Schaf an, dann hast du Milch, Wolle und Dünger – und nebenbei brauchst du deinen Rasen nicht mehr zu mähen. Und wenn es ganz schlimm kommt, hast du noch für ein paar Wochen genug Fleisch zum Essen.

  • Natürlich, Ingo, so machen wir das – und du kommst dann und schlachtest und zerlegst mir dann mein Schaf in seine Einzelteile, ja? Das möchte ich sehen! Aber können wir jetzt mal das Thema wechseln, bitte? Wir haben schließlich wieder eine Fußball-WM zu diskutieren.

Nun gut, Jupp, aber fang jetzt bitte nicht an mit der bösen FIFA-Mafia, der wir für die Übertragung der Spiele 214 Millionen Euro an Gebührengeldern überwiesen haben, dem schrecklichen Austragungsort Katar mit seinem Bierverbot und der deutschen Nationalmannschaft, die morgen beschämt nach Hause fahren muss. Ich möchte lieber mal die gesellschaftlichen Tendenzen mit dir diskutieren, die sich da im Hintergrund abzeichnen.

  • Was meinst du damit? Gesellschaftlich haben wir am 2. Dezember schon nichts mehr zu feiern, sondern lecken gemeinschaftlich unsere Wunden.

Da haben auch unsere Regenbogenfarben nicht geholfen. Überhaupt, ist dir aufgefallen, wie störend unsere moralischen Zeigefinger bei den nichtwestlichen Völkern angekommen sind? Bis zur Lächerlichkeit. Unsere Scheinheiligkeit ist doch offenkundig: menschenunwürdige Behandlung der Gastarbeiter durch die Katarer? Wie haben wir denn die Rumänen bei den Fleischfabriken untergebracht? Unterdrückung der Frauen im Islam? Was sagt denn unser christliches Abendland zur gerechten Bezahlung von gleichwertiger Frauenarbeit? Wie sehr werden unsere Frauen durch die katholische Kirche diskriminiert?

  • Du meinst also, wir sind auch nicht viel besser?

Wir sehen doch die Welt mit eurozentrischen Augen. Unsere Kritik wird von der arabischen Seite als bevormundend, respektlos und moralisierend empfunden. Nimm das Verbot homosexueller Beziehungen: LGBTQ ist nicht akzeptabel? Aber 122 Jahre war gemäß § 175 die Homosexualität in Deutschland strafbar, erst 1994 wurde der Paragraf ersatzlos gestrichen, nachdem in über 100.000 Fällen Strafverfahren eingeleitet worden waren. Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP erklärte der Bundestag erst 2002 alle Verurteilungen während des Dritten Reiches für nichtig. Und Entschädigung für die Betroffenen gibt es erst seit 2017. Wir sollten da besser ganz leise auftreten.  

  • Ingo, ich verstehe langsam, was du sagen willst. Wir Europäer verlieren zunehmend an Bedeutung, wie FIFA-Präsident Gianni Infantino uns kürzlich spüren ließ. Die asiatischen und afrikanischen Länder werden hofiert, sind zunehmend in der Mehrheit und sind meistens nicht als glühende Demokratien bekannt. Zudem ist der Westen durch seine Konsumgier hauptsächlich für die Klimakatastrophe verantwortlich und soll nun den Schaden bezahlen.

Die Araber haben ein schönes Sprichwort: „Das Herz des Unverständigen ist in seinem Munde. Die Zunge des Verständigen ist in seinem Herzen.“ Wir reden also zu viel von Dingen, die wir nicht verstehen. Das werde ich mir zu Herzen nehmen. Ich fühle mich als Passagier auf der angeblich unsinkbaren Titanic, nachdem sie gerade den Eisberg gerammt hat. Oben auf dem Deck spielt weiterhin die Kapelle, die Reichen in der ersten Klasse holen sich Eisbrocken für ihren Whiskey. Unter Deck brechen in der zweiten Klasse die ersten Krawalle aus. Und die Ärmsten im untersten Deck kämpfen gerade gegen die einbrechenden Fluten an.

  • Schreckliches Bild, Ingo. Heutzutage würden die Reichen schnell ihre Yachten herbeiordern und sich mit dem Hubschrauber ausfliegen lassen. Und was würdest du als Beobachter machen?

Ich würde mich wie die letzte Generation mit Sekundenkleber an einen Reichen kleben. Nach seinem Landgang würde ich mir vor Ort ein Hausboot kaufen und gemütlich bei einem Bier auf den Untergang warten, während du dich in deinem Gartenbunker verkrochen hast.

  • Also Ingo, dass ich das noch mal erleben darf! Du hast dich von einem Optimisten zu einem Pessimisten verwandelt, denn anscheinend erwartest du keinen Phönix-Vogel mehr, der aus der Asche zum Neubeginn aufsteigt. Worüber sollen wir dann eigentlich noch streiten? Angesichts einer drohenden Überschwemmung zu Hause überlege ich gerade, ob ich nicht besser auch zu dir ins Hausboot kommen sollte.

Jupp, du bist herzlich willkommen. Bring uns auch noch die große Salami mit. Ich besorge derweil das Bier. Dann feiern wir die „letzte Generation“, aber ohne Festkleberei. Und lachen nebenbei über die Dummheit der Menschen. Wie sagte schon der selige Charlie Chaplin: „Wer das Leben zu ernst nimmt, braucht eine Menge Humor, um es zu überstehen.“

E N D E

Anmerkung: Mit diesen Worten endet auch meine Pflicht als Chronist der beiden Zeitgenossen, nachdem ich über zehn Jahre ihre Gespräche wortgetreu aufgezeichnet habe. Gönnen wir ihnen die besinnliche Ruhe. Vielleicht schmilzt der Eisberg ja vorher schneller ab, als die Titanic ihn erreichen kann. Wer weiß denn schon, was die Zukunft bringt?

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Narrheit

Den Narren erkennst Du an sechs Zeichen: Furcht ohne Grund, Rede ohne Nutzen, Wechsel ohne Fortschritt, Frage ohne Ziel, Vertrauen zu Fremden und Freundschaft mit seinem Feind.

(Arabisches Sprichwort)

 

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von Ingo Nöhr

Bei Weltuntergang ab in den Garten

Ingo Nöhr zum 1. November 2022

Wie gut, dass die beiden Kumpels Ingo und Jupp nicht mehr die aktuellen Nachrichten in geballter Form mitbekommen. Das Ost-West-Gefüge der Welt gerät ins Wanken, China und Indien wollen mitspielen. Europa muss sich mit unfreundlichen Mitgliedern in Ungarn und Italien herumschlagen. Die Ampel-Koalition gerät zunehmend ins Schlingern.

Die Krisen halten sich nicht an einer beherrschbaren Reihenfolge, sondern kommen gleichzeitig: aus Russland, Ukraine, China, Taiwan, Afrika, Syrien und von Politikern wie Meloni, Trump, Bolsonaro, Erdogan, Orban, dazu noch lauernde Unholde wie Inflation, Demo­grafie, Corona-Viren, Klimawandel und Cyberkriminalität. Das ist zu viel für einen nachdenklichen Menschen. Ingo hat ein Gegenmittel gefunden.

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Guten Morgen, Jupp. Wir geht es dir mit deinen Büchern? Liest dein Ex-Nachbar auch mit? Man sagt doch, alle guten Worte dieser Welt stehen in Büchern.

  • Ach Ingo, das mag ja sein. Abends bin ich einfach zu geschafft, um noch in die Bücher hineinzuschauen. Wir kommen durch die Bauarbeiten gar nicht mehr zum Lesen.

Das ist schade. Dabei könntest du dich spätabends wenigstens bei den wundervollen Dokumentationen von 3Sat und Arte weiterbilden und dabei entspannen. Ich zitiere mal Heinrich Heine: „Von allen Welten, die der Mensch erfunden hat, ist die der Bücher die Gewaltigste.“ Dein Ex-Nachbar hätte doch eine bessere Welt kennenlernen können, als ihm in den Fake-News vorgegaukelt wird. Du solltest ihm aber möglichst keinen Zugang zu dystopischen SF-Romanen oder den Tagesprogrammen im Fernsehen ermöglichen, sonst dreht er noch weiter durch.

  • Oleksandr, so nenne ich ihn jetzt mit seinem ukrainischen Namen, den er sich bei der Flucht aus Schweden illegal zugelegt hat, ist auch ohne Lesen voll in seinem Element. Als erstes hat er mir im Keller ein Gästezimmer eingerichtet, demnächst kommt noch eine Dusche und Toilette hinzu.

Aha. Schön mit meterdicken Betonwänden, Dekontaminationsraum, Luftreinigungsanlage und explosionssicheren Stahltüren? Darf ich im Ernstfall dann auch mit rein?

  • Ach Ingo, natürlich lass ich dich nicht im Stich. Aber da musst du wohl erst noch ein paar Jahre warten. Der Ausbau zum Atombunker kommt erst später. Bei über 10 Prozent Inflation können wir uns das erforderliche Baumaterial einfach nicht leisten. Jetzt bauen wir erst mal meine Anliegerwohnung fertig. Das ist eine klare Win-Win-Situation. Olek hat im Winter eine warme Unterkunft und kommt vor lauter Arbeit nicht auf dumme Gedanken. Ich kann später meine Rente mit zusätzlichen Mieteinahmen aufstocken, und tue damit etwas Sinnvolles gegen die grassierende Wohnungsnot.

Was machst du denn mit deinem Olek, wenn der Kellerausbau fertig ist. Er müsste doch längst in Panik geraten sein, angesichts der aktuellen Bedrohungen durch Putins Atombomben. Jetzt ist sogar eine schmutzige Bombe im Gespräch.

  • Ja, das macht uns natürlich nachdenklich. Die Weltuntergangsuhr ist auf 100 Sekunden vor 12 gesprungen. Ach, du kennst nur die Schuldenuhr? Jährlich im Januar bestimmen führende Wissenschaftler die Gefahr, dass sich die Menschheit mit Atomwaffen oder dem Klimawandel selber auslöscht. Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde die Uhr auf 17 Minuten vor Mitternacht zurückgestellt. Seitdem rückt sie der 12 immer näher. Für 2023 werden sie wohl schon die Einheit Millisekunden einführen müssen.

Die Schuldenuhr vom Bund der Steuerzahler ist auch schon alarmierend genug. Heute zeigt sie einen Schuldenberg von 2.461 Milliarden Euro mit einem Zuwachs von 11.240 Euro pro Sekunde an. Für jeden Bundesbürger bedeutet das 29.270 Euro pro Kopf. Das ist aber sicherlich nicht beunruhigend, denn laut Bundesbank besitzt jeder Haushalt ein Nettovermögen von 232.800 Euro. Das können wir ja locker stemmen, nicht wahr? Hast du dein zugehöriges Vermögen schon entdeckt, Jupp?

  • Ja ja, Ingo, du willst mich mit deiner Statistik für dumm verkaufen. Wenn ich die linke Hand in Eiswasser halte und die rechte in 70 Grad heißes Wasser, dann habe ich im Durchschnitt angenehme 35 Grad. Klar. Knapp 26.300 Deutschen verdienen jährlich mindestens 1 Million Euro. Und 1 Prozent der Haushalte sitzt auf 27 Prozent des deutschen Gesamtvermögens. 13,8 Millionen Menschen in Deutschland sind nach Angaben des Paritätischen Gesamtverbandes von Armut betroffen. So viele wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Fast jedes fünfte Kind wächst demnach in Armut auf. Die werden wohl kaum ihre 30.000 Euro Staatsschulden abbezahlen können. Und mit deinen Mittelwerten brauchst du mir erst gar nicht kommen.

Na ja, bei 10 Prozent Inflation schmilzt der Schuldenberg schon von allein. Aber mal zurück zum Weltuntergang, sei es durch Meteoriten-Einschlag, neue Pandemien, Atomkrieg oder Klimakatastrophe. Wie sieht denn jetzt eure Strategie aus, Oleks und deine?

  • Wir haben einen Kompromiss geschlossen, nachdem mich Olek in einigen Punkten überzeugt hat. Sieh mal, was so in letzter Zeit alles passiert: Stromausfälle, leere Regale in den Supermärkten, schlechte Ernten, neue Corona-Varianten, Energieknappheit, kaputte Verkehrsinfrastruktur, Personalmangel allerorten und zudem eine völlig überforderte Politik samt ihren Behörden. Aber eine wenigstens spricht es klar aus: das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Sie empfiehlt einen Notvorrat anzulegen: Essen und Trinken für 10 Tage, mindestens 20 Liter pro Person, Rezepte für Kochen ohne Strom sammeln, und vieles mehr.

Oh Jupp, ich seh‘ dich schon Feuerholz im Wald sammeln und anschließend mit deinem Olek um ein Lagerfeuer sitzen und einen erlegten Feldhasen verspeisen. Der Standort ist aber als Schutz gegen Bomben oder Meteoriten nicht gerade ideal.

  • Da gebe ich dir Recht, Ingo. Daher wird Olek demnächst in meinem Garten einen Erdbunker ausheben. Die Anleitung dazu hat er im Internet unter https://de.wikihow.com/Einen-Atombunker-bauen gefunden. Mit zwei Ausgängen und Toilette sogar, aber alles sehr preisgünstig. Da packe ich dann unsere Notrationen rein. Wenn du möchtest, kaufe ich eine Portion für dich mit ein. Oder du buddelst dir am besten selbst einen Gartenbunker. Vielleicht kann Olek dann noch einen Verbindungstunnel zu uns bauen.

Also, sag mal, Jupp – du willst wirklich deinen schönen Garten zerstören? Das kommt bei mir überhaupt nicht in Frage. Zwar werde ich meinen Garten bis zum Sommer umbauen, aber nicht so. Ich lese nämlich gerade ein Buch über Gartentherapie von Andreas Niepel. Du glaubst gar nicht, wen man mit einem therapeutischen Garten alles glücklich machen kann: Autisten, Demenzkranke, Depressive, Drogensüchtige, Strafgefangene, Blinde, körperlich und geistig Behinderte, Flüchtlinge – und natürlich Aussteiger mit Burnout wie mich. Da kann ich keinen Atombunker im Beet gebrauchen.

  • So schlimm steht es also schon mit dir, Ingo – du musst in eine Therapie. Wie lange soll die denn dauern? Und nur am Rande bemerkt: Betrachte mal die Vorteile. So ein Erdbunker ist auch ein energiefreier Kühlschrank und zusätzlicher Lagerraum. Dadurch werde ich eine Menge Stromkosten sparen.

Jupp, du hast mich missverstanden. Ich bin nicht krank und meine Lebensqualität ist gewaltig gestiegen, seitdem ich diesen überdrehten Nachrichtenmist nicht mehr an mich herankommen lasse. Mein Garten ist ein Ort der Geborgenheit, des Erinnerns und Erfreuens an der Schönheit der Pflanzen und der Welt der dort lebenden Tiere. Dazu werde ich auch Kräuter, Obst und Gemüse anpflanzen. Ich hole mir das biblische Paradies, den Garten Eden wieder zurück in mein Leben. Allerdings ohne Schlange und leider auch ohne meine verstorbene Eva.

  • Das hört sich ja gut an, Ingo. Vergiss nicht Kartoffeln anzubauen. Und Wein, und Reis und Mangos, wenn das Klima weiterhin so heiß wird. Belieferst du mich im Katastrophenfall dann auch mit frischen Lebensmitteln?

Aber natürlich, Jupp. Und ich gehe sogar noch weiter. Ich lade dich im Frühling zu Gartentherapiesitzungen bei mir ein, damit du deinen Bunkerkoller bekämpfen kannst. Und wenn er sich anständig benimmt, darf Olek auch mitkommen.

  • Mir kommt gerade eine neue Idee. Wenn Olek schon am Ausschachten ist, soll er daneben gleich noch einen kleinen Bierkeller anlegen. Wer weiß denn schon, ob beim Weltuntergang unsere Eckkneipe noch geöffnet hat.

Na dann Prost – auf dass die Apokalypse noch lange auf sich warten lässt.

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Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge,
so würde ich doch heute mein Apfelbäumchen pflanzen.
(Martin Luther (1483-1546), dt. Reformator)

So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist so weit.
(Hoimar von Ditfurth (1921-89), dt. Wissenschaftspublizist)

 

„Gartentherapie ist eine fachliche Maßnahme, bei welcher pflanzen- und gartenorientierte Aktivitäten und Erlebnisse genutzt werden, um zielgerichtet Interaktionen zwischen Mensch und Umwelt zu unterstützen, mit dem Ziel der Förderung von Lebensqualität und der Erhaltung und Wiederherstellung funktionaler Gesundheit.
Dieses beinhaltet die Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, die Erhaltung und Förderung von selbstbestimmter gesellschaftlicher Teilhabe und Aktivitäten, sowie die fördernde Einwirkung auf den Lebenshintergrund.“
(Aus: Andreas Niepel, Gabriele Vef-Georg – Praxishandbuch Gartentherapie)

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von Ingo Nöhr

Über Gestrandete, Atombunker und die Langsamkeit

Ingo Nöhr zum 1. Oktober 2022

Letzten Monat haben die beiden Krankenhausveteranen geschworen, sich vom Elend der gegenwärtigen Welt abzuwenden und lieber ihr Heil im Studium der Literatur beziehungsweise die Zuflucht im alternativen Landleben zu finden. Sie versprachen sich dadurch ein glücklicheres und erfüllteres Leben als sich ständig von den Katastrophenmeldungen der Medien stimmungsmäßig herunterziehen zu lassen. Ein schöner Plan und es wäre beinahe gut gegangen, … - ja, wenn da nicht wieder dieser querdenkende Ex-Nachbar wäre, der mit seiner Flucht in das gelobte Land Schweden spektakulär gescheitert ist … Und nun in einem Zelt fast vor der Haustür von Jupp campiert.

Guten Morgen Jupp, wie geht es dir? Du schaust etwas miesepetrig aus. Vor einem Monat hattest du doch beschlossen, Kriminologe zu werden – mit tatkräftiger Unterstützung von Father Brown, Hercule Poirot und Miss Marple. Was ist schiefgelaufen?

  • Mein Nachbar ist mir dazwischengekommen – eigentlich beide: der neue Nachbar und mein verrückter Ex-Nachbar.

Ich erinnere mich. Dein Ex-Nachbar war doch auf dem Anticorona-Trip ins gelobte Schweden, wurde dort gleich eingelocht und ist als Ukrainer über Polen in den Vorgarten deines neuen Nachbarn geflüchtet.

  • Ja, mit dem kleinen Unterschied, dass er nach einer wundersamen Transformation als deutscher Rentner hier angekommen ist. Er hatte sich schon häuslich in seinem Campingzelt auf Nachbars Rasen eingerichtet und ihm dafür sein Wohnmobil vermacht.

Warum hast du nun ein Problem damit? Er kann doch jetzt den neuen Besitzer mit seinen lustigen Verschwörungstheorien amüsieren.

  • Ja, aber das klappt wohl nicht mehr. Als der neue Nachbar das Wohnmobil in Malmö abholen wollte, hat er sofort Ärger mit der dortigen Polizei bekommen. Sie bestehen darauf, dass der Fahrzeugbesitzer persönlich zu erscheinen, weil er mittlerweile zur Fahndung ausgeschrieben ist. Und zuhause ohne Wohnmobil, aber mit ausreichend Wut im Bauch, angekommen, hat er meinen alten Nachbar gleich samt Zelt und Krimskrams rausgeschmissen. Und rate mal, wo er jetzt untergekommen ist?

Man schwant, dass er sich dann einen gepflegten Rasen gleich nebenan für seinen neuen Wohnort ausgesucht hat und der gehört augenscheinlich meinem Freund Jupp, richtig?

  • Man könnte meinen, du hast ihn dahingehend beraten. Er hockt also nun in meinem Vorgarten und friert sich fürchterlich einen ab, weil seine ganzen Klamotten noch in Malmö noch im Auto liegen.

Und du als herzensgute Seele hast es nicht übers Herz gebracht, ihn zu deiner Entlastung unseren städtischen Sozialeinrichtungen anzuvertrauen. Wohl, weil er ja steckbrieflich von Schweden gesucht wird. Und als Flüchtlingsukrainer kann er auch nicht mehr auftreten, weil er ja wieder zum deutschen Rentner mutiert ist. Spannende Geschichte, Jupp. Und wie soll es nun weitergehen?

  • Ich weiß es nicht, Ingo. Er tut mir natürlich leid, und ihm ist das alles fürchterlich peinlich. Ich wollte ihn zu seiner Querdenkertruppe schicken, aber die sind wohl auch alle untergetaucht. Aus Dankbarkeit will er jetzt meinen Keller umbauen - kostenlos. Mit Gästezimmer, Bad und Toilette und so. Er meint, da könnte ich später bestimmt gut untervermieten.

Na ja, ein geschickter Handwerker scheint er ja zu sein, wenn man sich sein früheres Haus mal näher anschaut. Und du scheinst nicht ganz glücklich darüber zu sein.

  • Ach Ingo, er will meinen Keller atombombenfest machen, Umbau zu einem Atombunker, verstehst du? Er erzählt mir permanent, dass Putin uns bald mit Atombomben angreifen wird, weil wir ihm die Ukraine und das Baltikum samt Polen nicht überlassen wollen. Im russischen Fernsehen wird wohl schon andauernd darüber debattiert.

Aha, einen Atombunker bei dir zu Hause. Lässt du mich denn im Ernstfall auch rein? Aber … ich weiß gar nicht, ob ich den Rest meiner Tage in einer atomar verseuchten Wüste verbringen will. Da verdampfe ich doch lieber gleich in einem Blitz.

  • Ingo, ich glaube ja auch nicht, dass Putin Atombomben schmeißen wird, aber seine dusseligen Soldaten machen andauernd Kriegsspiele im größten Atommeiler Europas. Wenn der hochgeht, haben wir Tschernobyl und Fukushima auf einmal vor unserer Haustür. Da wird das nichts mit deinem schönen Tod in Mikrosekunden.

Jupp, erzähle deinem Nachbarn doch, dass wir in Deutschland über 2000 öffentliche Atombunker gebaut haben. Und wenn er sich die Katastrophen-App NINA auf seinem Handy installiert, wird er hoffentlich rechtzeitig vor dem Angriff und der nuklearen Verseuchung gewarnt. Auf unsere Sirenen würde ich aber da nicht vertrauen.

  • Ingo, du bist nicht auf dem Laufenden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sagt, dass der Bund bereits 2007 mit den Ländern das frühere Schutzraumkonzept aufgeben hat. Derzeit gebe es keine funktionstüchtigen öffentlichen Schutzräume Von den 2000 Schutzräume für etwa zwei Millionen Menschen sind inzwischen noch etwa 1000 Anlagen übrig. Die werden aber seit Jahren vom Bund praktisch nicht mehr gewartet und nicht mehr funktionsfähig gehalten.

Na klar. Wir haben den Kalten Krieg durch die Wiedervereinigung beendet und wollten den Marxismus der Sowjetunion durch unseren gefälligen Kapitalismus ersetzen – Wandel durch Handel. Hat einerseits gut geklappt – Putin und seine Oligarchen gehören zu den reichsten Männern der Welt. Aber war das so gemeint?  In der Kremlmauer entstehen schon überall Risse, weil Lenin in seinem Mausoleum immer schneller um seine Achse rotiert.

  • Ja siehste, in Deutschland sind wir überhaupt nicht auf einen Atomschlag vorbereitet, da müssen wir schon rechtzeitig in die Schweiz oder die USA flüchten. Also hilft nur die Privatinitiative. Die BSSD, Bunker Schutzraum Systeme Deutschland bietet als Marktführer für viele Zehntausend Euro die Installation von atomsicheren Schutzräumen in hauseigenen Kellern an. Das Geschäft boomt gewaltig, es gibt schon lange Wartelisten. Und wenn mein Ex-Nachbar mir das umsonst aufbaut, hätte ich doch eine gewaltige Wertsteigerung, oder nicht?

Mag sein. In Wikipedia gibt es noch eine lange Liste militärischer Bunker. Aber bereite deinen Nachbarn darauf vor, dass ungeimpfte Verweigerer wohl schlechte Karten für eine Aufnahme im Schutzbunker haben werden.  

  • Das kennt er sicherlich schon, denn in mein Haus dürfen auch nur geimpfte Leute eintreten. So lange wird er wohl noch in seinem kalten Zelt hocken bleiben müssen. Und seine Alternative: auswandern in ein anderes sicheres Land? Da wird mal wohl junge Leute mit Ausbildung vorziehen und alte Rentner nicht mit offenen Armen aufnehmen wollen.

Wenn er schon so bauwütig ist, kann er sich ja als Soforthilfe für den harten Winter eine kleine Holzhütte um sein Zelt bauen, dann hat er es etwas wärmer.

  • Bloß das nicht, Ingo. Weiß du denn nicht mehr, was für baurechtliche, hygienische und versicherungstechnische Vorschriften für solch eine Errichtung beachtet werden müssen? Nein, ich hoffe vielmehr, dass sich endlich mal einer von seiner alten Verschwörungstruppe meldet und ihn aufnimmt.

Wenn du Pech hast, hocken aber bald noch ein paar weitere Verschwörer auf deinem Rasen, halten dort Mitgliederversammlungen ab und beantragen politisches Asyl.

  • Also Ingo, mir wird schon wieder schlecht. Können wir nicht das Thema wechseln? Wieweit ist denn dein Ausstieg aus der Zivilisation gediehen? Kann ich demnächst mein Obst und Gemüse auf deinem Biobauerhof einkaufen? Strickwolle von deinen Merino-Ziegen? Oder ziehst du dich als Eremit zum Meditieren in eine Höhle zurück?

Mal langsam, Jupp. Erstmal werde ich noch den Winter in meinem Zuhause abwarten. Nichts überstürzen. Ich habe gerade Sten Nadolnys Roman Die Entdeckung der Langsamkeit gelesen. Sein Motto: „Dreimal hinsehen, einmal handeln. Junge Leute begreifen das nicht immer. Langsam und fehlerlos ist besser als schnell und zum letzten Mal.“ Ich habe von ihm gelernt: Nichts kann man voraussagen. Niemand kann begründen, warum alles so und nichts anders geschieht. Stärker als alle Voraussagen sind Zufall und Widerspruch. Und das verschafft mir eine innere Ruhe. Die Futurologen lagen schon immer daneben, wenn sie die gegenwärtige Situation einfach in die Zukunft extrapolieren. Denk an den Schwarzen Schwan von Nassim Nicholas Taleb.

  • Aha, du hast jetzt die Langsamkeit entdeckt. Bedeutet das etwa, wir müssen unsere monatlichen Stammtischgespräche auf zwei bis drei Tage ausdehnen? Oder senden wir uns die Gesprächsfetzen wie die Spielzüge beim Fernschach über Monate per Email zu?

Nein, mein lieber Jupp, so ist es ja nicht. Du siehst, wir können uns im normalen Sprechtempo unterhalten, müssen uns aber nicht die aktuellsten Unglücksbotschaften um die Ohren schlagen. Wir wenden uns vielmehr der zeitlosen Philosophie zu und erheben uns damit über das tägliche Geschrei der Sensationen.

  • Ja, ich merke schon, wir wandeln uns von den Beobachtern zu Denkern. Übrigens habe ich von meinem Gilbert Keith Chesterton mithilfe seines Sherlock Holmes nicht nur viel über die Kriminologie gelernt, sondern auch etwas Philosophisches für den Alltag. Da schmeckt das Bier doch viel besser. Besonders, wenn es mit Langsamkeit über unsere Geschmacksknospen rinnt, aaahh.

Ich stimme dir zu. Dann bestellen wir beim Wirt mal ein in angemessener Ruhe gezapftes Bier, für einen Prost auf unsere glückbringenden Nischen in der chaotischen Welt.

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Gilbert Keith Chesterton (1874–1936):

Unter all den denkwürdigen Dingen, die wir vergessen haben, ist der universalste und folgenreichste Lapsus der, welcher uns vergessen ließ, dass wir einen Stern bewohnen.

Wir mögen die Himmel erstürmen und neue Sterne ohne Zahl finden: Es gibt immer noch den neuen Stern, den wir nicht gefunden haben - jenen, auf dem wir geboren sind.

Dies ist die riesige moderne Irrlehre: die Menschenseele zu ändern, um sie den Verhältnissen anzupassen, anstatt die Verhältnisse zu ändern, um sie der Menschenseele anzupassen.

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von Ingo Nöhr

Das literarische Duett

Ingo Nöhr zum 1. September 2022

Meldungen über Krisen aller Art füllen bereits das tägliche Leben aus: Inflation, steigende Preise, drohende Energie-Engpässe, Klimakatastrophen, bombardierte Atommeiler, unendliches Kriegsleiden, - und nun auch noch das Ende des beliebten Neun- Euro-Tickets. Die Despoten der Welt wittern wieder Morgenluft, Krieg entwickelt sich zu einem neuen Mittel der Politik und die katholische Kirche vergrault langsam auch ihre letzten Schäfchen.

Gut, dass sich Ingo mit seinem unerschütterlichen Optimismus und seinem Glauben an einem Neuanfang in einer besseren Welt selber immunisiert hat. Und sein Kumpel Jupp? Der hat Ingos Rat beherzigt, konsequent Fernsehen und Internet abgeschaltet und verkriecht sich in die fiktive Welt der Bücher. Dennoch treffen sich beide wieder zu ihrem traditionellen Frühschoppen in ihrer Eckkneipe.

Na Jupp, wie geht es dir heute? Hast du nach Tolstois Krieg und Frieden wieder ein neues Buch gelesen?

Ja, das freut mich aber für dich, Ingo. So ist es richtig: Die echte Lebensweisheit besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen. Und das kann man nur in Ruhe beim Anhalten. Chesterton hat mir auch etwas Beruhigendes mitgeteilt: „Der Mann, der Einklang in Dingen sieht, ist ein gewitzter Kopf. Der Mann, der die Widersprüchlichkeit in Dingen sieht, ist ein Humorist.“ Aber sag mal, was kommt denn als Nächstes, wenn du Father Brown durchgelesen hast? 

  • Oh, mich fasziniert die feine englische Art zu Leben. Ich habe schon eine Warteliste mit Dutzenden Romane und Kurzgeschichten von Agatha Christie angelegt. Ich liebe Hercule Poirot mit seinen kleinen grauen Zellen und Miss Marple, die strickende alte Jungfer. Passender Spruch gefällig? „Ich habe gelernt, dass man nicht umkehren kann, dass das Wesentliche im Leben ist, vorwärtszugehen. Das Leben ist in Wirklichkeit eine Einbahnstraße.”

Aber beim Vorwärtsgehen nicht das Stehenbleiben vergessen, wie Chesterton anmahnt. Du bist also rettungslos ein Krimifan geworden, allerdings der eher höhergeistigen Literatur. Das hört sich für mich nach einem Anti-Demenz-Training an, oder?

  • Sicherlich hält es meine grauen Zellen davon ab, sich allzuschnell zur Ruhe zu setzen. Deswegen schaue ich zwischendrin auch mal bei Sherlock Holmes und seinem Doktor Watson vorbei. Sein Motto: „Kriminalität ist weit verbreitet. Logik ist selten. Daher solltest du dich eher mit der Logik als mit dem Verbrechen befassen.“ Bei ihm finde ich noch die logischen Zusammenhänge, die für mich in der realen Welt nicht mehr auffindbar sind.

Hast du denn überhaupt noch Kontakt zur Wirklichkeit, wenn du dich von allen Nachrichten abschottest?

  • Dummerweise schon, denn seit zwei Wochen ist mein verrückter Nachbar wieder aufgetaucht. Weil er als Aussteiger sein Haus verkauft hat, logiert er jetzt in einem Zelt in seinem ehemaligen Vorgarten.

Wie bitte? Der war doch seit einem halben Jahr mit seinem Wohnmobil auf dem Weg nach Schweden, um den Reptiloiden in der deutschen Regierung zu entkommen. Was ist passiert?

  • Ingo, darüber könntest du ein spannendes Buch schreiben. Ich fasse mich mal kurz: Durch Dänemark ist er noch gut durchgekommen. Auf dem Rastplatz vor der Öresundbrücke hat er dann ein Anhalterpärchen mitgenommen. Auf der schwedischen Seite kam er in eine Grenzkontrolle: seine Mitfahrer hatten keine gültigen Reisepapiere und dummerweise noch reichlich Drogen im Gepäck. Festnahme und Anzeige wegen Menschenschmuggel und Drogenhandel.

Lass mich raten: Bestimmt waren das ebenfalls Impfverweigerer und Querdenker auf der Flucht vor den bösen Illuminaten.

  • Mag sein. Jedenfalls, mein Nachbar ist ja ein cleveres Bürschchen. Er hat spontan einen körperlichen Zusammenbruch simuliert, kam in eine medizinische Einrichtung, ist dort in einem unbewachten Moment abgehauen. Natürlich musste er sein Wohnmobil zurücklassen, er hatte aber noch sein Geld dabei. Im Hafen von Malmö hat er einen Schleuser ausfindig gemacht, der ihn über die Ostsee nach Polen verschifft hat, wo er sich als ukrainischer Flüchtling registrieren ließ. Und auf dem Weg nach Deutschland hat er sich wieder in einen deutschen Rentner verwandelt, schließlich möchte er schon unser soziales Netz mit all seinen Vorzügen genießen. Dem neuen Besitzer seines Hauses hat er sein Wohnmobil vermacht, damit er in seinem Garten kampieren darf. Der muss sich das nur in Malmö abholen.

Mann, Jupp, das ist ja eine irre Story. Und das hat er dir alles erzählt? Der arme Kerl. Jetzt lauert doch gerade der böse Minister Lauterbach mit seinen berüchtigten Herbstregeln zur Bekämpfung des Corona-Killervirus auf ihn.    

  • Im Gegenteil, Ingo, er ist ganz stolz, ein Impfverweigerer zu sein. Dazu hat er mir einen langen Brief eines australischen Schriftstellers vorgelesen: Die Ungeimpften sind die Helden der letzten zwei Jahre. Sie sind die tapferen Menschen mit vielen Kampfspuren, welche die Regierung versucht hat, zu brandmarken und mental zu brechen. Heute ist die harte Wahrheit ans Licht gekommen, dass nichts davon gerechtfertigt war. Den Ungeimpften wurde der Tod gewünscht, dabei waren die meisten Sterbenden vorher geimpft. Jetzt erwarten sie innere Dankbarkeit von der Bevölkerung, denn sie haben Mut und Beharrlichkeit gezeigt, bis die reine Wahrheit über die Impfhysterie ans Licht gekommen ist. Der Krieg gegen die Ungeimpften wurde verloren und wir Verblendeten sollten dafür ewig dankbar sein.

Soso, dann zitiere ich bezüglich der Sterberaten mal das Ärzteblatt vom 4. Februar 2022: „CDC: Geboosterte sterben 97 Mal seltener an COVID-19 - Atlanta – In den USA sterben derzeit täglich 2.500 Menschen an COVID-19. Die meisten sind ungeimpft. Nach neuen Zahlen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC), die auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus vorgestellt wurden, haben Menschen nach einer abgeschlossenen Impfung mit 2 Dosen ein 14-fach geringeres Risiko an COVID-19 zu sterben. Für Geboosterte ist das Risiko sogar um dem Fak­tor 97 geringer.“

  • Ach Ingo, mein lieber Nachbar würde diese Zahlen sofort als Lüge entlarven, weil das CDC komplett von den Demokraten unterwandert ist. Außerdem fühlt er sich durch die natürliche Immunisierung durch die Corona-Viren nahezu unverwundbar.

Du könntest ihm Leo Tolstois Erzählung „Der Tod des Ivan Iljitsch“ schenken. Ich zitiere: „eine dramatische Geschichte, die in einem drei Tage währenden Schmerzensschrei und in einer panisch-verzweifelten Suche nach dem Sinn des Lebens und Sterbens gipfelt, die buchstäblich erst im letzten Augenblick zum Abschluss kommt. Der Leser wird in diese Leidensgeschichte tiefer und tiefer hineingezogen; zunächst bloß ein distanzierter Beobachter, wird er immer mehr ein Mitleidender.“

  • Das Buch würde er nur lesen, wenn es von einem Republikaner verfasst, von Donald Trump empfohlen und Ivan ein Demokrat ist. Aber jetzt mal Butter bei die Fische, mein lieber Ingo: Was machst du denn in der nächsten Zeit? Es gibt ja nirgendwo mehr Anzeichen für deinen überbordenden Optimismus beziehungsweise gute Nachrichten für die Zukunft. 

Das stimmt so nicht, Jupp. Du fällst wieder auf den Information Bias der Medien herein. Gute Nachrichten bringen leider keine Quote, deswegen muss man sie mühsam hinter dem hyperlauten Theaterschirm suchen. Es gibt immer mehr vernünftige Menschen, die unser grenzenloses Wachstum durch permanenten Konsum infrage stellen und alternative Lebensweisen aufbauen. Ich habe auf Bio-Bauernhöfen und in Land-WGs glückliche Menschen gefunden, die mit wenig Mitteln eine nachhaltige Landwirtschaft aufgebaut haben. Dorthin werde ich mich mal einige Zeit zurückziehen und neue Lebensentwürfe studieren. Das fördert meine mentale und psychische Stabilität und öffnet die Augen für echte Werte.

  • Also Ingo! Du willst mich jetzt tatsächlich verlassen und künftig als Ur-Grüner in der Pampa leben? Das kann doch nicht dein Ernst sein? Wie soll ich dann noch mit meinem Nachbarn klarkommen? Mit wem soll ich noch streiten? Wer baut mich wieder auf?

Keine Bange, Ingo. Es gibt ja ein tausend jahrealtes Naturheilmittel, welches wir an jedem Monatsanfang zu uns nehmen. Diese Tradition können wir gerne beibehalten. Und irgendwann kannst du vielleicht unser selbstgebrautes Bier kosten.

Bis dahin – halt die Ohren steif, Jupp und einen Prost auf deine Gesundheit: körperlich und geistig.

# # #

Weine nicht um die Vergangenheit,
   sie ist vorbei.
Stresse dich nicht wegen der Zukunft,
   sie ist noch gar nicht da.
Lebe in der Gegenwart
   und mache sie zu etwas Wunderbarem.

(Verfasser unbekannt) 

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von Ingo Nöhr

Alles Schlechte hat auch sein Gutes - Das Beste aus zehn Jahren

Ingo Nöhr 1.August 2022

Was macht der Mensch, wenn er heutzutage permanent von schlechten Nachrichten überschüttet wird? Er lehnt sich zurück und erinnert sich an die gute alte Zeit, als alles noch viel besser war. Seit nunmehr zehn Jahren wurden die Stammtischgespräche von Ingo und Jupp von einem fleißigen Chronisten lückenlos aufgezeichnet. Mehrere tausend Seiten Protokolle sind da zusammen­gekommen und es lohnt sich, mal in einem kleinen Rückblick ein paar Höhepunkte auszugraben.

Guten Morgen Jupp. Heute haben wir ein historisches Treffen. Mit der 120. Ausgabe unserer Stammtischgespräche können wir ein feines Jubiläum feiern.

  • Stimmt genau, Ingo: 120 Treffen, die es meistens in sich hatten. Ein abgehobener Ingenieur trifft auf einen pragmatischen Techniker, Pessimist gegen Optimisten, wobei ich mich weiterhin zu den Realisten zählen würde. Du erwartest dagegen den Aufbruch nach dem Kollaps unserer Gesellschaft, den sagenhaften Aufstieg des Phönix aus der Asche.

Nun, mein lieber Jupp, eigentlich bin ich nicht so weltfremd wie du mich immer darstellst, sondern ich betrachte die Läufe der Geschichte in einem längeren Kontext. Ich schaue sozusagen über den Tellerrand, während du in den Krisen dauernd gefühlsmäßig kurz vor dem Ertrinken stehst. Du siehst, trotz der befürchteten Katastrophen haben wir schon zehn Jahre gut überlebt.

  • Vieles ist ja auch beständig, nimm mal die Betreiberverordnung für Medizinprodukte. Vor genau zehn Jahren hast du mich in meiner Garage besucht, als ich gerade als erfahrener Praktiker den Betreibervorschriften des Medizinproduktegesetzes auf den Zahn fühlte.

Ich erinnere mich noch gut daran: du hast dein Auto als Medizinprodukt eingruppiert, die Risikoklasse bestimmt, ein Medizinproduktebuch mit Sicherheitstechnischen Kontrollen angelegt und wolltest dem BfArM jedes Beinahevorkommnis und jede Funktionsstörung gemäß der Sicherheitsplanverordnung mitteilen. Ich war damals von deiner konsequenten Ernsthaftigkeit schwer beeindruckt.

  • Dann bin ich aber am Nachweis der qualifizierten Instandhaltung und einem validierten Reinigungsverfahren gescheitert. Mein Schwager musste seinen Pizza-Expressdienst wegen der sonst erforderlichen Änderung der Zweckbestimmung zum Lastauto anderweitig zustellen.

Es wurde richtig lustig. Damals haben wir mit der Anwendung des MPG im Alltagsleben für viel Unruhe gesorgt. Dann kam dir die Idee mit der ISO 9001 für’s Spaghetti kochen und das Risikomanagement für die Weihnachtsbeleuchtung.

  • Schon damals haben wir über das Krankenhaus der Zukunft schwadroniert: die neuen Technologien im Wettstreit mit den esoterischen Heilverfahren. Daraus entstanden die drei Szenerien des Gesundheitswesens mit seinen typischen Vertretern: Dr. McCoy für die Hochtechnologie, Dr. Feelgood mit seiner Schmusemedizin und Dr. Eisenbarth mit seiner Minimalversorgung. Die Theateraufführung auf der MEDICA 2013 war ein Publikumsrenner.

Wir hatten auch kommerziell lukrative Vorschläge erarbeitet: der ambulante Schönheitschirurg im Supermarkt, Brustimplantate beim Shopping, die mobile Apotheke im Kioskwagen der Bahn, ganzheitliche Placebo-Medizin mit Globuli und fünfdimensionalen Kosmoskräften.

  • Du hast die geniale Idee eines Amtes für Nichtzuständigkeiten gehabt, etwas, was heutzutage dringender den je erforderlich ist. Immer, wenn sich für einen Schlamassel keiner zuständig oder verantwortlich fühlt, tritt automatisch die zentrale Behörde für Nichtzuständigkeiten in Aktion. Leider konnten wir mit dieser revolutionären Lösung auch nach zehn Jahren nicht in die politische Ebene vordringen.

Aber dafür haben wir uns mehrmals an der Brüsseler Bürokratie abgearbeitet. Sogar die Fußball-WM 2014 drohte von der EU-Kommission regulativ überarbeitet werden. In dieser Zeit hatten wir besonders viele kreative Ideen für die Digitalisierung des Fußballs. Innovation war angesagt: mehr Humor durch Slapstick-Einlagen vom gelangweilten Torwart, medizinische Sensoren, Google Glasses und Sprechverbindungen für die Spieler, Webcams im Fußball und ein KI-gesteuertes FUMS, sprich Fußball-Management-System.

  • Überhaupt: mehr Manager für jeden Kleinkram wie Entscheidungsmanager, Torschussmanager, Ballaufpumpmanager, Rasenpflegemanager – da können die von uns Krankenhausleuten eine Menge lernen. Ein Bachelor-Studium an einer Fußball-Akademie mit Grundlagen in der Theaterwissenschaft und manipulativer Psychologie wäre längst angesagt, um die Fouls publikumsattraktiver zu gestalten.

Mit der Digitalisierung waren wir schon weit in der Zukunft angekommen, denn wir haben einfach mal bei der Industrie 4.0 reingeschaut. Jedes Medizinprodukt bekommt einen kleinen Chip, gekoppelt an einem lernenden System. Es schaut im ständigen Dialog mit seinem Umfeld vor Anwendung nach, ob es systemkompatibel, mit den richtigen Zubehörteilen ausgestattet, rechtzeitig inspiziert und gewartet worden ist und von einem qualifizierten Anwender bedient wird. Und die Pharmaindustrie könnte das Prinzip auf ihre Pillen übertragen: der Chip in jeder Pille überwacht die individuelle Medikation mit seinen Nachbarpillen auf dem Tablett, kontrolliert etwaige Unverträglichkeiten und verpetzt den Patienten, wenn er sie nicht rechtzeitig einnimmt.

  • 2015 beglückte uns der Gesundheitsminister mit innovativen Gesetzen zur immerwährenden Reform unseres Krankensystems zum „bedarfsgerechten Umbau der Krankenversorgung“. Nach jahrzehntelangen Kostendeckungsreformen verzeichnen wir steigende Gesundheitskosten mit 350 Mrd. Euro und gehören damit zum Club der teuersten Gesundheitssysteme der Welt. Das gewaltige Bürokratiemonster mit 134 gesetzlichen Krankenkassen, 16 Landeskrankenhausgesellschaften, 12 Spitzenverbänden der Krankenhausträger, 17 Kassenärztlichen Vereinigungen und Dutzenden von Kammern muss schließlich finanziert werden. Aber dafür gab es ein kleines Licht am Horizont der Innovationen: die NUBs – Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden als schnelle Zulassungsmöglichkeit und Entgeltsystem für innovative Lösungen.

Und die Digitalisierung schritt unerbittlich voran, leider unschön durch Hackerattacken gestört. Das autonome Auto drehte seine Runden, allerdings nur in amerikanischen Großstädten, Roboter unterstützten die Arbeit der Pflegekräfte, hauptsächlich in Japan. KI-Doc IBM Watson hilft den Ärzten bei der Diagnose seltener Krankheiten. Digitale Konzerne brachen reihenweise Weltrekorde: AirBnB als weltgrößter Zimmervermittler, Amazon als weltgrößtes Warenhaus, Wikipedia als Weltenzyklopädie. Arbeit 4.0 im Home-Office als Clickworker in Croudworking-Plattformen – nur unsere Kliniken sind in der Mehrzahl noch in Stufe 2.0  hängen geblieben.

  • Nicht verwunderlich bei unseren Politikern. Da fehlt wohl noch ein Einlauf mit künstlicher Intelligenz. Originalton von Merkel in Berlin 2013 beim Obama-Besuch: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Der zuständige Minister Dobrindt hatte 2016 für den Breitbandausbau des Internets 600 Mio. Euro zur Verfügung. Ausgegeben hat er 5 Millionen. Der IT-Strategieberater Sascha Lobo hat danach Deutschland vom digitalen Entwicklungsland zu einem „Digitally Failed State“ herabgestuft.

Ja, unsere Regierungen haben uns in den letzten zehn Jahren immer wieder zum Staunen gebracht: Verlorene Wahlen, Brexit, Donald Trump, das Tesla-Auto, DSGVO, Ausstieg aus der Atomkraft und der Kohleverstromung – wir gewöhnten uns zunehmend an die disruptive Politik.

  • Ja, aber nicht alle Volksschichten. Im November 2016 haben wir schon über die erwachende Macht der Verlierer diskutiert: Donald Trump setzte auf blinde Destruktionspolitik und negierte den Klimawandel. Ungarn und Polen fühlten sich bei der Flüchtlingspolitik der EU nicht ernstgenommen und verweigerten die Gefolgschaft. Pegida und AFD wurden zunehmend lautstärker. 1,5 Mio. Nichtwähler kreuzten die AFD an, eine Million bisheriger CDU-Wähler, eine halbe Million von der SPD und 420 Tausend von den Linken wechselten zur AFD, die jetzt mit 94 Mitgliedern und gleich als drittgrößte Fraktion erstmals in den Bundestag einzog. Der gilt mit 709 Mitgliedern statt reguzlär 598 als das zweitgrößte Parlament weltweit.

Jupp, du hast dann im Dezember die rebellische Frage gestellt: Wozu brauchen wir eigentlich noch eine Regierung? Wir planen die Gesellschaft 4.0, die aber immer noch mit der Verwaltung 1.0 von Kaiser Wilhelms Zeiten klarkommen muss. Da hatten gerade Hunderttausende von ehrenamtlichen Helfern die erste Flüchtlingswelle bewältigt. Wie die Flut im Ahrtal kürzlich zeigte, könnten wir bei den kommenden Klimakatastrophen wieder auf uns gestellt sein, die bisherige Hilflosigkeit unserer Schulbehörden und Gesundheitsämter in der Corona-Pandemie spricht da eine deutliche Sprache.

  • Ingo, Social Media soll doch die Lösung bringen. Facebook hatte gerade 16 Milliarden Dollar Gewinn gemacht. Cambridge Analytics hat sich auf etwas krummen Wegen 50 Millionen Facebook-Profile besorgt und damit wohl sehr wirksam Wahlpropaganda für Donald Trump und den Brexit gemacht. Jetzt sehen viele Politiker die Demokratie in Gefahr.

Jupp, schau doch mal auf die Kräfteverhältnisse. Ohne eine randvoll gefüllte Wahlkampfkasse hat kein Bewerber eine Chance auf den Präsidentensitz.  Acht Männer besitzen so viel Vermögen wie die ärmere Hälfte der gesamten Weltbevölkerung. In Deutschland verteilt sich der halbe Reichtum des Volkes auf 36 Milliardäre. Leute, denkt nach! Es macht wenig Sinn, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein. Mark Zuckerberg, Bill Gates und Warren Buffet spendeten schon mal den größten Teil ihres Reichtums. Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach meinte damals: „Menschen, die nach immer größerem Reichtum jagen, ohne sich jemals Zeit zu gönnen, ihn zu genießen, sind wie Hungrige, die immerfort kochen, sich aber nie zu Tische setzen.“

  • Oh, aber auch die Reichen mussten während der schweren Corona-Pandemie etwas bluten. Bis auf wenige Ausnahmen: Amazon steigerte 2021 seinen Nettogewinn um 56%. Und natürlich die Pharmaindustrie und die Medizintechnikbranche. Es brachen ab 2020 wirklich disruptive Zeiten an. Covid-19 krempelte die Welt um, globale Lieferketten brachen zusammen, das Schönwetter-Beamtentum in Deutschland erlebte seinen Untergang, Klimakatastrophen nehmen zu, Donald Trump versuchte mit einem Staatsstreich seine verlorene Wahl zu retten. Jetzt der Angriffskrieg in der Ukraine, steigende Inflation, Energiekrise, neue Flüchtlingswellen … ich höre deinen Phönix-Vogel schon in der Asche rascheln. Kommt jetzt wirklich die Zeitenwende, Ingo?

Ja, Jupp. Ich glaube, die gemütlichen Zeiten des Aussitzens, des Ignorierens und des Luxus auf Kosten anderer sind endgültig vorbei. Wir müssen jetzt dringend über neue Werte nachdenken, wie wir die Zeiten des ewigen Wachstums und des Konsumrausches hinter uns lassen. Wir verschwenden eine unglaubliche Menge an Lebensmitteln, Energie, Wasser und Land. Gerade am 28. Juli hatten wir schon die gesamten Ressourcen der Erde für das Jahr 2022 aufgebraucht. Seitdem leben wir auf Pump. Wir sollten endlich Lao-Tse beherzigen: „Ein reicher Mensch ist einer, der weiß, dass er genug hat.“

  • Ingo, ich glaube, ich verstehe jetzt langsam deine Philosophie. Du siehst in diesem ganzen Chaos des Schlechten den Keim des Guten für einen Neuanfang. Da kann ich nur hoffen, dass sich dein Supervogel noch rechtzeitig aus diesem Trümmerhaufen befreien kann.

Und darauf warten wir besser bei einem nachhaltigen Getränk. Herr Wirt, zwei Bier bitte, bevor die Welt ganz untergeht. Prost auf unseren Phönix.

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Luxus und allzu große Verfeinerung in den Staaten sind ein sicheres Zeichen ihres Unterganges, weil die einzelnen sich selbst nur so weit fördern konnten, wenn sie das allgemeine Wohl aus den Augen verloren. (François VI. Herzog de La Rochefoucauld, Schriftsteller und Moralist, 1613-1680)

Bisher musste der Mensch mit dem Gedanken an seinen sicheren persönlichen Tod leben. Jetzt hat er sich auch noch mit dem Gedanken an den möglichen Untergang der ganzen Menschheit abzufinden. (Arthur Koestler, Schriftsteller, 1905 – 1983)

Lasst uns wenigstens den Weltuntergang verhindern. Es ist fünf vor zwölf und wir haben nicht mehr viel Zeit.  (Barack Obama, ehemaliger US-Präsident, am 16.Juli 2011)

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von Ingo Nöhr

Über Imperien, Eiserne Vorhänge und infizierte Ballons

Ingo Nöhr zum 1. Juli 2022


Der chinesische Philosoph Laotse hat mal gesagt: „Ein Land regiert man nach Regel und Maß, Krieg führt man ohne Regel mit List.“ Die Verantwortlichen in vielen Regierungen der Welt haben diese Weisheit noch nicht richtig verinnerlicht: überall fehlt es an Regeln, Maßhalten oder zumindest eine nachhaltige List. Kein Wunder, dass unsere beiden Zeitgenossen Ingo und Jupp zunehmend die Orientierung über das Weltgeschehen verlieren. Aberwitzige Meldungen brechen täglich über sie herein. Zehntausende junge Menschen verlieren gerade ihr Leben, sei es als Angreifer oder Verteidiger. Wahnwitzige Geldsummen werden in Waffen investiert, ungeheure Werte sinnlos zerstört – und die Menschen flüchten in kilometerlangen Schlangen zum Urlaub in fremde Länder, als wenn das klimatische Armageddon schon in Kürze bevorsteht - nur noch schnell was erleben, bevor das Geld durch die Inflation aufgefressen und die Welt untergeht. Kein gutes Umfeld für einen Pessimisten wie Jupp, der sich nur noch behutsam den täglichen Nachrichten aussetzt und ansonsten in seinem Garten dicke Bücher liest.

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Hallo Ingo, warst du schon auf der Documenta in Kassel, die Kunst des Globalen Südens anschauen?

  • Jupp, nein, noch nicht. Da rennen mir im Moment noch zu viel aufgeregte Leute herum. Die Indonesier, die das umstrittene Monumentalbild aufgestellt haben, betrachten sich also als Vertreter des Globalen Südens. War dies bisher nicht die Dritte Welt? Dieser Begriff ist mir eigentlich neu.

Ja, Ingo, da kann ich auch mal etwas zu deiner Bildung beitragen. Der Begriff Global South wurde schon vor dreißig Jahren von der Weltbank geprägt, um die Abwertung der Bezeichnung Entwicklungs- und Schwellenländer zu vermeiden. Wir gehören eindeutig zum Globalen Norden und vertreten somit die reichen Industrieländer.

  • Richtig, ich erinnere mich, dass damals vom Nord-Süd-Konflikt gesprochen wurde. Und dann hatten wir noch den Ost-West-Konflikt, damals im Kalten Krieg. Die Ostgrenze hat sich seitdem zum Ärger Putins mächtig in Richtung Russland verschoben. Er möchte die Geschichte wieder ins Zarenreich zurückdrehen. Dann bliebe uns Europäer als Imperium nur noch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation des Kaisers Karl des Großen. Das Dritte Reich Hitlers möchte ich aus nachvollziehbaren Gründen lieber nicht erwähnen.

Hoffentlich kommt China nicht auf die Idee, das Mongolische Reich von Dschingis Khan zu reaktivieren, es reichte nach 1260 bis zum Baltikum und umschloss große Teile Russlands und das heutige China.

  • Oh, da kommt er dem Erdogan in die Quere: sein Traum vom Osmanischen Reich um 1683 reichte bis nach Nordafrika und wurde erst vor Wien gestoppt. Ich glaube, die Lösung der imperialen Träume liegt in einem Wettkampf, wie er vielleicht schon in der Steinzeit ausgefochten wurde. Die machtverliebten Häuptlinge Xi Jinping, Putin, Erdogan und möglichst auch noch Donald Trump treffen sich zu einem mörderischen Schlagabtausch auf einer kleinen Insel. Wer überlebt, darf sich dann Sultan, König, Kaiser, Zar oder Präsident der Insel nennen und wird entsprechend bis ans Lebensende hofiert und durchgefüttert.

Gute Idee, Ingo. Du hast schon früher den Vorschlag gemacht, alle Staatstreffen wie die G7, G20, NATO- und sonstige Generalversammlungen mit wichtigen Politikern auf dem vorab evakuierten Helgoland abzuhalten, um die übrige Bevölkerung vor den radikalen Sicherheitsmaßnahmen zu schützen. 

  • Und natürlich würde man immense Kosten einsparen. Das letzte G7-Treffen auf Schloss Elmau hat 166 Millionen Euro gekostet und zum Schutz der wenigen Hanseln 18.000 Polizisten beschäftigt. Wenn die Staatsmänner wenigstens einen kostendeckenden Eintritt bezahlt hätten. Schließlich gab es von Ministerpräsident Söder noch einen Rucksack mit Wegzehrung für die Rückreise als Geschenk.

Aber Ingo, kommen wir nochmal auf die Einteilung der Welt in die vier Himmelrichtungen zurück. Exakt geographisch betrachtet trennt der Äquator Nord und Süd sowie der Greenwich-Meridian Ost und West. So gesehen sind der größte Teil Afrikas, Indien, Malaysia und die Philippinen dem Globalen Norden zuzuordnen. Die Ost-West-Teilung über London würde die Europäische Union bis auf Spanien dem Osten zuweisen. Das passt irgendwie nicht zur aktuellen Realität. Der neutrale Beobachter des Weltgeschehens müsste dann am Kreuzungspunkt im Golf von Guinea südlich von Ghana positioniert werden.

  • Das wäre ja ein idealer Treffpunkt für solche Monsterversammlungen. 2001 trafen sich die Staatschefs der G8-Länder in Genua auf einem Kreuzfahrtschiff, aus Angst vor Terroranschlägen. Das Schiff sollte nach dem Eintreffen der Gäste sofort ablegen und erst wieder zurückkehren, wenn sich alle Potentaten auf vernünftige Lösungen geeinigt haben. Spätestens dann, wenn das Essen ausgeht, wird man sich zusammenraufen. So ähnlich machen es ja auch die Kardinäle im Vatikan, wenn sie im Konklave einen Papst wählen müssen. Einsperren, bis zur Einigung – altbewährte Lösung.

Ingo, da werden sicherlich einige Nationen spürbar aufatmen, wenn ihr Chef mal länger außer Landes ist. Ich höre gerade die Nachricht aus Nordkorea, wo gerade die Corona-Pandemie ohne irgendwelche Beschränkungen grassiert - keiner ist geimpft oder getestet, da Covid laut Diktator Kim Jong Un nicht existiert. Nun gibt es einen nationalen Notstand mit fast fünf Millionen an Fieber erkrankten Menschen. Und wie ist nun das Virus in das total isolierte Land gelangt? Die Regierung macht Agenten aus Südkorea dafür verantwortlich, die angeblich infizierte Ballons mit Flugblättern über die Grenze geschickt hätten.

  • Wir könnten doch Lauterbach als Berater mal hinüberschicken. Aber eigentlich würde ich ihn gern in Dänemark sehen. Dort hat die Regierungschefin Mette Frederiksen gerade die neue nationale Corona-Strategie vorgestellt: „Unsere Botschaft ist, dass ihr den Sommer ohne Sorgen genießen sollt. Feiert, umarmt und küsst ohne Bedenken“. Maskenpflicht und Lockdowns werden auch für den Herbst und Winter ausgeschlossen.

Das lässt mich wirklich staunen, Ingo. Lauterbach rechnet mit einer massiven Verschlechterung der Coronalage im Herbst, die durch extrem hohe Fallzahlen sogar die kritische Infrastruktur bedroht. Gibt es jetzt etwa auch einen Eisernen Vorhang zwischen Deutschland und Dänemark, mit dem gerade der russische Außenminister Lawrow zwischen Russland und dem Westen gedroht hat?

  • Was kommt da auf uns zu? Nichts Genaues weiß man nicht! Das schreiben schon die Sachverständigen in ihrem Corona-Evaluierungsgutachten über die Wirksamkeit bisherigen Schutzmaßnahmen. Wir haben einfach keine verlässlichen Daten gesammelt, um vernünftige Aussagen über die Coronapolitik treffen zu können. Dabei hat das RKI schon vor 20 Jahren dringend angemahnt, dass man die Wirkung von Pandemiemaßnahmen vorbeugend untersuchen sollte. Ende 2020 bekam das RKI von 68 beantragten Datenerhebungen nur vier genehmigt.

Wir können doch einfach unsere Nachbarn in Großbritannien fragen. Dort hat das Gesundheitsministerium seit Beginn der Pandemie monatlich 150.000 Menschen befragt und untersucht. Aber was ist, wenn die Briten wie die Dänen genauso verschieden als wir auf den Virus reagieren. Sind wir Deutschen medizinisch eine besondere Spezies?

  • Na ja Jupp, vielleicht sind wir als gestandene Biertrinker eine empfindlichere Gattung und wir sollten mal auf Whisky oder Aquavit umsatteln?

Halte ich für keine gute Idee, Ingo. Schließlich sind wir mit unserem guten deutschen Bier ganz passabel alt geworden. Und der Corona-Fuzzi konnte uns auch nicht umschmeißen. Also Prost auf die Genesung der übrigen Welt.

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„Keiner steht einfach auf und sagt "Ich werde mir das hier nehmen, weil ich es will." Er wird sagen, "Ich werde es nehmen, weil es ja eigentlich mir gehört, und es besser für alle wäre, wenn ich es hätte." Das trifft auf Kinder zu, die sich um Spielzeug streiten, und auch auf Regierungen, die in Kriege ziehen. Niemand ist jemals in einen Angriffskrieg involviert; es ist immer ein Verteidigungskrieg - auf beiden Seiten.“ 
(Noam Chomsky, Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology, 1928)

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“
(Erich Maria Remarque, deutscher Autor 1898 – 1970)

„Jeder Krieg ist ein Symptom für das Versagen des Menschen als denkendes Tier.“
(John Steinbeck, US-amerikanischer Autor, 1902-1968)

„Das Friedensministerium befasst sich mit Krieg, das Wahrheitsministerium mit Lügen, das Ministerium für Liebe mit Folterung und das Ministerium für Überfluss mit Einschränkungen.
… Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke.“
(George Orwell, 1984)

 

 

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von Ingo Nöhr

Über das Gute und das Böse

Ingo Nöhr zum 1. Juni 2022

Unser neuer FDP-Finanzminister war mit dem Versprechen eines Sparhaushalts angetreten. Jetzt haben wir einen Haushalt von einer halben Billion Euro mit 140 Milliarden Neuverschuldung. Überall sprudeln plötzlich die Geldquellen, besonders im militärischen Sektor. Rüstungsindustrie und Ölkonzerne leben im Goldrausch. Überhaupt beobachten die beiden Krankenhausrentner eine gewisse Brutalisierung in der Welt: ein Duma-Abgeordneter schlägt vor, einen der vielen Präsidentenbesucher in Kiew nach Moskau zu entführen, ein anderer stellt den Antrag auf die Einführung der Todesstrafe für Kriegsgefangene. Die USA liefert weitreichende Raketen in die Ukraine, Russland kontert mit Hyperschallraketen. Ein 18jähriger kauft sich in Texas ein Schnellfeuergewehr und erschießt in einer Schule 19 Kinder, während die Polizei fast eine Stunde vor dem Klassenzimmer wartet. Überall lauert das Böse, aber wo bleiben die Guten?

Hallo Ingo, wie geht es dir heute in diesem weltweiten Chaos? Ich habe eine gute Nachricht für dich: meine Verzweiflung über den Zustand der Menschheit hat sich etwas gelegt, dank deines Ratschlages, keine aktuellen Nachrichten mehr zu verfolgen und mehr gute Bücher zu lesen. Ich habe festgestellt, dass es doch noch eine Menge guter Dinge in der Welt gibt, seit ich mich mehr um meinen Garten kümmere. Die dortige Natur wartet weiterhin mit wundervollen Erscheinungen auf, völlig unbeeinflusst von den Katastrophenwarnungen ringsherum.

  • Mein lieber Jupp, das freut mich aber wirklich für dich. William Shakespeare hat etwas Wichtiges festgestellt: „An sich ist nichts weder gut noch böse. Das Denken macht es erst dazu.“ Und das Denken wird heutzutage leider extrem durch Propaganda beeinflusst. Goerge Orwell hat in seinem Klassiker !984 eindrucksvoll beschrieben, wie das funktioniert: „All der Krieg-Propaganda, all das Geschrei und die Lügen und der Hass kommt immer nur von Leuten, die nicht kämpfen müssen. … Je weiter sich eine Gesellschaft von der Wahrheit entfernt, desto mehr wird sie jene hassen, die sie aussprechen.“

Sein Buch ist in Belarus längst verboten. Er hat es ja vor über siebzig Jahren veröffentlicht, aber augenscheinlich haben wir nichts daraus gelernt. Ich konnte leichten Herzens auf die täglichen Nachrichten verzichten, als auf allen Kanälen die militärischen Meldungen auftauchten, Generäle die Strategien und Schlachtpläne diskutierten und unsere Politiker die Zeitenwende mit einem neuen Schuldenberg von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehraufrüstung einleiten. Heutzutage wird das ja im Orwellschen Neusprech als „Sondervermögen“ bezeichnet, als ob wir mit dieser gigantischen Geldverschwendung für absolut destruktive Anschaffungen unser „Vermögen“ aufstocken würden. Albert Einstein hat uns immer gewarnt: „Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden. Wir müssen sie gegen Propaganda immunisieren!“

  • Mein lieber Jupp, da stellt sich doch die einfache Frage, wer soll uns immunisieren? Die regierenden Politiker sicherlich nicht, denn das hieße ja, den Bock zum Gärtner zu machen. Die Oppositionsparteien haben in der gegenwärtigen Stimmung gerade einen schlechten Stand und viele Wähler verloren. Die Wirtschaft macht in Krisenzeiten meistens glänzende Geschäfte. Wir werden bald wieder Rekordbilanzen erleben. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt für dieses Jahr soll laut DIW-Prognose trotz der großen Herausforderungen um 3,0 % steigen.

Klar der Kapitalismus war schon immer der große Kriegsgewinner. Aber eigentlich vertreten wir ja das christliche Abendland mit seinen ethischen Grundsätzen. Die großen Kirchen als ehemalige Moralinstanzen sind aber leider seit Jahren mit ihren Missbrauchsskandalen und massivem Mitgliederschwund intern beschäftigt. Nein halt, Papst Franziskus hatte kürzlich das Militärbündnis NATO kritisiert: dessen Präsenz in Nachbarländern Russlands habe die russische Invasion „vielleicht erleichtert“. Womöglich habe „das Bellen der Nato an Russlands Tür“ für eine Eskalation des Konflikts gesorgt. Da rauschte aber gleich von allen Seiten eine Empörungswelle heran.

  • Laut Orwell bleibt nur noch eine Gruppe übrig: eine starke und unabhängige Presse: „Journalismus ist etwas zu veröffentlichen, was andere nicht wollen, dass es veröffentlicht wird. Alles andere ist Propaganda.“ Aber da sehe ich, von kleinen Ausnahmen abgesehen, kaum noch eine seriöse, kompetente und wertneutrale Berichterstattung in den großen Medien.

Du hast recht, Ingo: die Bevölkerung ist sich im Großen und Ganzen einig: wir sind die Guten und müssen der Ukraine gegen die bösen Russen helfen. Dazu müssen wir auch mal unsere Prinzipien über Bord werfen, denn wie Stephen King meint: „Es ist besser gut als böse zu sein, aber manchmal erreicht man Gutes nur zu einem erschreckend hohen Preis“, wie die Grünen entsetzt feststellen.

  • Jupp, die Guten und großen Helden findest du meistens in der Literatur.

Gute Idee, Ingo, ich habe ja deinen Rat beherzigt und gelesen. Einen Wälzer von 1680 Seiten mit 257 Kapiteln: Krieg und Frieden von Leo Tolstoi. Er hat mich sehr beeindruckt und ich habe unglaublich viel über die Weltgeschichte gelernt. Mir schwirrt der Kopf noch von den Hundertschaften der handelnden Personen.  Tolstois Werk ist weiterhin aktuell, denn er schreibt: „Es gibt Menschen, die ein Stück Land ‚Mein‘ nennen, und dieses Land nie gesehen und betreten haben. Die Menschen trachten im Leben nicht danach, zu tun, was sie für gut halten, sondern danach, möglichst viele Dinge ‚Mein‘ zu nennen.“ Und Tolstoi könnte sich direkt mit Putin getroffen haben: „Die meisten Menschen, die man böse nennt, wurden deshalb so, weil sie ihre schlechte Laune für einen berechtigten Zustand ansahen.“ Und weiter: „Es ist sehr leicht zu wissen, was Gut und Böse an sich bedeuten. Menschen aber, die Gut und Böse durcheinander gebracht haben, können dies nur sehr schwer entscheiden.“

  • Mensch Jupp, ich gratuliere dir zu dieser Leseleistung. Da bist du ja ein regelrechter Experte für die russische Geschichte geworden und auf dem Weg zu einem „Putinversteher“. Das bringt mich auf eine Idee, die wir in ähnlicher Weise schon im Februar umgesetzt haben: Wir simulieren jetzt ein Streitgespräch zwischen dem guten Westler und dem bösen Putin. Dir ist doch klar, welche Rolle du übernimmst, oder?

Ja, Ingo, das dürfte interessant werden. Du wirst also dann den Standpunkt von Voltaire vertreten: Alles wendet sich zum Besten in der besten aller möglichen Welten. Auf geht’s.

  • Also, Herr Putin, die Sowjetunion hat 1945 angesichts der zivilisatorischen Katastrophen zweier Weltkriege die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet, sogar als UN-Gründungsmitglied. Dieses Vertragswerk beinhaltet die fundamentalen Regeln des Völkerrechts, darunter das Gewaltverbot. Es gibt zwei Ausnahmen: Nach Artikel 42 ermächtigt Sie der Weltsicherheitsrat zu „robusten Maßnahmen“ oder nach Artikel 51 haben Sie bei einem Angriff das Recht zur Selbstverteidigung. Beides trifft aber für Ihren Angriffskrieg nicht zu: 104 Mitglieder der UN-Vollversammlung haben sie aufgefordert, den Krieg sofort zu beenden und Sie wurden auch nicht von der Ukraine angegriffen.

Geschätzter verblendeter NATO-Vertreter, für mich sieht die Situation anders aus. Es geht hier nicht um die Ukraine allein, sondern um die Weltherrschaft der USA. Die NATO verfolgt konsequent ein Drehbuch der amerikanischen und westlichen Russland-Politik, welches der Politikberater Zbigniew Brzezinski 2002 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ formuliert hat. Als Supermacht müsse die USA ihr Potenzial nutzen und für eine globale Sicherheitsordnung jede störende Macht neutralisieren, nämlich in Eurasien Russland. Die Herauslösung der Ukraine würde Russland zu einer ungefährlichen Regionalmacht abstempeln. Ihre Außenministerin Baerbock erklärte kürzlich, man müsse Russland durch die Sanktionen ruinieren. Das betrachten wir als Angriff.

  • Aber Herr Putin, das berechtigt Sie ja nicht zu einem Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Wir führen keinen Angriffskrieg, sondern eine militärische Spezialoperation in einer Region, die schon seit Urzeiten das russische Kernland ist und in der die russische Bevölkerung von einer nationalsozialistischen Regierung unterdrückt wird. Seit dem 18. Jahrhundert befindet sich unser Hauptstützpunkt für die russische Schwarzmeerflotte auf der Krim. Wir mussten in unserem Interessengebiet umgehend den Zugang zum Meer freihalten, nachdem die NATO deutliche Bestrebungen zeigten, uns vom Schwarzen Meer abzuschnüren.

  • Momentmal, Herr Putin: Die Ukraine ist seit 1991 ein souveräner Staat, nach einem Referendum mit 90% Zustimmung der Bevölkerung. Das Minsker Abkommen haben Sie mit einem unabhängigen Staat unterzeichnet.

Das zweite Abkommen von Minsk hat ja nie funktioniert. Wir mussten unsere russische Bevölkerung in Lugansk und Donezk schützen, die von der ukrainischen Regierung massiv unterdrückt und sogar bekämpft wurde. Den Regierungsclown Selenskyi haben Sie zum guten Helden hochstilisiert, aber der Westen verschweigt penetrant seine Verbindungen zu den Nazi-Gruppen und Provokationen mit deren Vertretern.

  • Ich will ja nicht abstreiten, dass vereinzelt rechtsnationale Aktionen passiert sind, aber die gesamte gewählte Regierung als Nazi-Regime einzustufen, da machen Sie sich weltweit lächerlich. Selenskyi ist jüdischen Glaubens und eine nationalsozialistische Regierungspolitik ist nicht erkennbar.

Sind Sie sicher, dass Sie über die Situation der russischen Bevölkerung in der Ostukraine wahrheitsgemäß unterrichtet werden? Aber nochmals: wir wurden ungewollt in einen Stellvertreterkrieg mit den USA hineingezogen, als wir in der Ukraine nur für Ordnung sorgen wollten. Die Amerikaner wollen mit ihrem Eingreifen bewusst ein gutes Verhältnis von Europa mit Russland sabotieren. Dahinter steht reine Machtpolitik.

  • Herr Putin, Sie haben die russische Machtpolitik mehrmals öffentlich verkündet: die weitgehende Wiederherstellung des Sowjetimperiums, welches auch das Baltikum und Polen einbezieht.

Ihre Propaganda hat sie blind für die Realitäten gemacht, denn sie blendet den politischen und geostrategischen Kontext des gegenwärtigen Konfliktes komplett aus. Ihre Presse berichtet nur auf der Basis der Verlautbarungen der NATO, der USA und der Ukraine. Unsere Interessen an einer stabilen Grenze und Pufferzone zum Raubkapitalismus des Westens werden aber seit Jahrzehnten ignoriert und durch die ständigen NATO-Erweiterungen massiv verletzt. Seit der Auflösung der Sowjetunion hat sich die NATO zehn neue Nachbarländer Russlands einverleibt, Schweden und Finnland stehen kurz vor dem Beitritt, an unseren südlichen Grenzen werden fünf weitere Länder angeworben. Sie umzingeln mein Staatsgebiet und rüsten an den Grenzen militärisch auf. Wir fühlen uns zunehmend in der Existenz bedroht und den NATO-Raketen an unseren Grenzen schutzlos ausgesetzt.

  • Aber Herr Putin, das mag ja alles sein, aber Sie lenken wieder davon ab, dass Sie mit dem Einmarsch gegen das Völkerrecht verstoßen haben und nun in der Ukraine andauernd Kriegsverbrechen begehen. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und sie hat noch nie einen Angriffskrieg gestartet.

Sie messen mit zweierlei Maß. Durch Ihre Doppelmoral haben Sie nicht nur die Glaubwürdigkeit verloren, sondern schaffen auch einen idealen Nährboden für neue Gewalt. Darf ich Sie an die massiven Völkerrechtsbrüche der letzten Jahrzehnte durch die USA und NATO erinnern? Keine Angriffskriege? Jugoslawien, Irak, Syrien, Libyen – all diese Verstöße gegen die UN-Charta sind ungeahndet geblieben, obwohl Millionen an Toten zu beklagen waren. Wo bleiben die Anklagen gegen die US-Präsidenten als Kriegsverbrecher, zum Beispiel wegen der Tausenden von Drohnenmorden?

  • All diese möglichen Verstöße geben aber Russland nicht das Recht, die Ukraine anzugreifen.

Unsere Spezialoperation diente allein dem Schutz unserer neuen Volksrepubliken Donezk und Lugansk, nachdem die Gewährung einer Autonomie innerhalb der Ukraine von der Kiewer Regierung verweigert wurde. Vergessen Sie nicht, dass der Donbass-Konflikt 14.000 Tote gefordert hat, nachdem der damalige Machthaber Poroschenko für das faschistische Asow-Regiment Panzer und Artillerie in die Region geschickt hat. Jetzt mussten wir erneut eine geplante Offensive gegen unsere beiden Republiken abwehren.

  • Herr Putin, wir drehen uns im Kreis. Politische Provokationen rechtfertigen keinen Angriffskrieg, weder im Westen noch im Osten. Der Grund für die vielen Völkerrechtsbrüche in der Welt liegt auf der Hand: Recht ist das eine, Macht ist das andere. Nicht immer siegt die Stärke des Rechts, manchmal triumphiert leider die Macht des Stärkeren. Daher beenden wir jetzt besser unser Gespräch und arbeiten gemeinsam an einer diplomatischen Lösung, die für alle Seiten annehmbar ist.
  • Mein lieber Jupp, du hast dich aber sehr intensiv in deine Rolle als Putin hineinversetzt. Mir ist deutlich geworden, dass wir auf beiden Seiten nur gefilterte Informationen durchlassen. Die Propaganda ist augenscheinlich sehr wirkungsvoll und vermutlich werden die Historiker erst in den kommenden Jahrzehnten die wahren Geschehnisse und Ursachen aufdecken können.

Ja, Ingo, diese Streitgespräche sind eine gute Übung, die Welt auch einmal von einem anderen Standpunkt zu betrachten. Mir wird aber angst und bange, wenn ich die gegenwärtige Reaktion der massiven Aufrüstung mit Waffen betrachte. Diese unglaubliche Ressourcenverschwendung wird uns der Mittel berauben, die wir brauchen, um den Hunger in der Welt und die Klimaveränderungen zu reduzieren. Wir fallen wieder auf das Niveau der Steinzeitmenschen zurück: wer hat die größere Keule? Und dabei verschlingen uns langsam die Naturgewalten.

  • Mir macht es Mut, dass viele Menschen angesichts dieser drohenden Aufrüstungsspirale und der gewaltigen ungelösten Probleme zu neuem Nachdenken und kritischem Hinterfragen der politischen Strategien gelangen.

Ich hoffe, dass diese Erfahrungen zu einer weiteren disruptiven Zeitenwende führen, und zwar nicht zu einem nationalen Egoismus, sondern zu einer globalen Solidarität der Menschheit angesichts der weltweiten Not.

  • Und den Herren an den roten Knöpfen für die Atomsprengköpfe sollten endlich Albert Einstein ernstnehmen: „Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.“

Bis dahin lass uns beide friedlich wieder unser Bier genießen, bevor auch hier irgendwelche Engpässe die Preise explodieren lassen. Ein Prost auf die Guten in der Welt.

# # #

Am 30. Mai ist der Weltuntergang

(Die Lustigen Jungs 1954

Wie schön ist doch das Leben
Auf dieser bunten Welt
Wir können einen heben
So oft es uns gefällt
Das macht uns allen Spaß:
"Herr Ober, noch ein Glas!"

Am 30. Mai ist der Weltuntergang
Wir leben nicht mehr lang …

Doch keiner weiß, in welchem Jahr
Und das ist wunderbar
Wir sind vielleicht noch lange hier
Und darauf trinken wir!

Am 30. Mai ist der Weltuntergang
Wir leben nicht mehr lang …

Der Wirt "Zur blauen Schnecke"
ist wirklich sehr auf Draht

Da steht in einer Ecke:
"Pass auf, dein Ende naht
Jedoch bei Bier und Wein
Da schläfst du selig ein!"

Am 30. Mai ist der Weltuntergang
Wir leben nicht mehr lang …

Doch keiner weiß, in welchem Jahr
Und das ist wunderbar
Wir sind vielleicht noch lange hier
Und darauf trinken wir! Prost!

 

Der Anlass für das Lied "Am 30. Mai ist der Weltuntergang" war die erste Flächenbombardierung der Stadt Köln im 2. Weltkrieg. Sie richtete sich nicht gegen militärische Ziele, sondern gegen die Zivilbevölkerung. In der Nacht vom 30. Mai auf den 31. Mai 1942 wurde von der britischen Luftwaffe der "1.000-Bomber-Angriff" auf Köln geflogen - als Vergeltung für die Angriffe der Hitlerarmee auf London und Coventry. Das Lied mit der Melodie von Will Glahé und dem Text von Karl Golgowsky war in den 50iger Jahren ein "Gassenhauer" und ist bis heute im musikalischen Gedächtnis der KölnerInnen präsent.

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von Ingo Nöhr

„Ich habe die MACHT!“

Ingo Nöhr zum 1.Mai 2022

Die bestehende Weltordnung zeigt immer mehr Risse. Steht die angebliche „Zeitenwende“ wirklich schon vor der Tür, viel drastischer als sich unser Bundeskanzler das kürzlich vorgestellt hat? Zwei große Weltkrisen haben plötzlich unerwarteten Zulauf bekommen. Während die 26 Millionen Bewohner von Shanghai seit Wochen abgeriegelt im Omikron- Lockdown hungern und bei einer Infektion sofort in Lager eingesperrt werden, droht in Südafrika bei einer Verfünffachung der Infektionszahlen schon die fünfte Welle mit den neuen Omikron-Varianten BA.4 und BA.5. Noch erleben wir in Deutschland zu 96% den BA.2 Virus, aber BA.5 wurde Ende April schon in jeder tausendsten Infektion nachgewiesen. Die Klimakatastrophe schlägt in Indien gerade mit einer Extremhitze von 50°C zu und verursacht beim zweitgrößten Weizenproduzent der Welt massive Ernteausfälle.

Und Möchtegernzar Putin zündelt neuerdings auch auf dem Balkan in Bosnien und Herzegowina, um dort seine Landsleute vor den angeblichen Nazis zu retten. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung fürchtet sich aktuell vor dem Ausbruch eines Atomkrieges.

Währenddessen stellen die hiesigen Autofirmen Audi, BMW und Mercedes ungerührt neue Automodelle vor: Kolossale SUVs mit drei Tonnen Gewicht, die von 544 PS und 100 kWh Akkus angetrieben werden und mit ihren Ausmaßen kaum noch in herkömmliche Garagen passen.

Kurzum: in geruhsamen Deutschland-Hotel ist gerade das „Do not disturb“-Schildchen von der Tür abgefallen und wir Schlafmützen werden unvorbereitet mit der brutalen Realität konfrontiert.

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 Hallo Ingo. Die letzten Jahre habe ich dich mit deinem Gerede vom Phönix aus der Asche nach dem drohenden Zusammenbruch der alten Ordnung nie richtig ernstgenommen. Aber jetzt erlebe ich es hautnah: Respekt, Freundlichkeit und Zeit gibt es nicht mehr in der westlichen Welt. Viel schlimmer noch: der UN-Generalsekretär Guterres fliegt nach seinem Gespräch mit dem Kreml nach Kiew und Putin schickt ihm als Gruß aus Moskau fünf Raketen mit Bomben hinterher. Ich würde das als Mordversuch eines Psychopathen deuten. Meine vertraute Welt löst sich buchstäblich in Trümmern auf und verschwindet in Bombentrichtern. Diese unfassbaren Gräuel in der Ukraine – die Meldungen sind für mich nicht mehr auszuhalten.

  • Mein lieber Jupp, ich muss dir leider sagen, dass dahinter seit einem Jahrhundert eine grausame Strategie steckt. Im Sommer 1917 schrieb Lenin in seinem Vorwort zum Klassiker „Staat und Revolution“ den folgenden Satz: „Die unerhörten Gräuel und Unbilden des sich in die Länge ziehenden Krieges machen die Lage der Massen unerträglich und steigern ihre Empörung.“ Diese Wut kann man nutzen. Putin hat seit seinem Aufstieg zum Ministerpräsidenten 1999 konsequent alles unternommen, um die gefährliche Idee der Demokratie zu vernichten. Er hat Menschen nie ernstgenommen, sie waren für ihn immer nur Figuren auf dem Schachbrett und wurden eliminiert, wenn sie von Anfang an seinem Ziel im Wege standen – nämlich das russische Großreich wieder auferstehen zu lassen.

 „Menschen werden eliminiert“, … sag mal Ingo, wie kannst du da noch ruhig bleiben angesichts der täglichen Horrormeldungen? Da kannst du doch nirgendwo mehr ein Fünkchen für deinen Optimismus finden. Zieht dich die Nachrichtenlage nicht auch immer tiefer runter? Da hantiert doch ein Irrer permanent mit dem roten Knopf für einen Atomkrieg.

  • Genau diese Horrormeldungen verursachen dein Problem der Schlaflosigkeit, Jupp. Du verfolgst permanent in den Medien die militärischen Nachrichten, die vielfach mit Kriegspropaganda vermischt sind. Es sind nicht immer objektive Tatsachen, was die Reporter berichten, sondern sie reissen dich mit ihren Emotionen mit. Du siehst es doch täglich in den Gesellschaften: die russischen Putin-Fans, bei uns die Querdenker-Szene. Timothy Snyder hat in seinem Buch „Über Tyrannei“ eine exzellente Analyse verfasst: „Tatsachen aufzugeben bedeutet, die Freiheit aufzugeben. Wenn nichts wahr ist, dann ist alles Spektakel.“

Ich weiß es ja, Ingo. Alles was in den Medien die Quote bringt, sind Eindrücke, Emotionen und Mythen – die alternativen Realitäten. Gute Nachrichten sind nicht interessant genug. Ich bin total überinformiert, leide aber immer mehr an meiner Handlungsunfähigkeit und bin dem Geschehen so hilflos ausgeliefert. Ich finde keine ruhige Minute mehr.

  • Ja, die Ruhe fehlt. Kannst du denn ein Buch in Ruhe noch zu Ende lesen? Wie groß ist momentan noch deine Aufmerksamkeitsspanne? Eine Twitter-Meldung weit? Snyder beschreibt präzise diese Methoden der Tyrannei: „Vor mehr als einem halben Jahrhundert warnten die klassischen Romane des Totalitarismus vor der Herrschaft der Bildschirme, der Unterdrückung von Büchern, der Beschränkung des Wortschatzes und den damit verbundenen Schwierigkeiten des Denkens. In Ray Bradburys Fahrenheit 451, veröffentlicht 1953, spüren Feuerwehrleute Bücher auf und verbrennen sie, während die meisten Bürger interaktives Fernsehen schauen. In George Orwells 1984, veröffentlicht 1949, werden Bücher verboten und das Fernsehen ist nicht nur ein Empfänger, sondern erlaubt es der Regierung, die Bürger die ganze Zeit über zu beobachten.
    In 1984 ist die Sprache der visuellen Medien in hohem Maße eingeschränkt, um der Öffentlichkeit die Begriffe zu entziehen, die man braucht, um über die Gegenwart nachzudenken, sich an die Vergangenheit zu erinnern und Überlegungen hinsichtlich der Zukunft anzustellen. Eines der Projekte des Regimes besteht darin, die Sprache noch weiter auszudünnen, indem man aus jeder neuen Ausgabe des offiziellen Wörterbuchs wieder unzählige Wörter streicht.
    Auf Bildschirme zu starren ist unvermeidlich; doch die zweidimensionale Welt ist wenig sinnvoll, wenn wir nicht über ein geistiges Rüstzeug verfügen, das wir anderswo entwickelt haben. Wenn wir die gleichen Wörter und Phrasen wiederholen, die in den täglichen Medien auftauchen, akzeptieren wir das Fehlen eines größeren Rahmens.“

Ich habe noch das Buch von Neil Postman von 1985 zuhause: „Wir amüsieren uns zu Tode“. Fernsehen wurde nicht für Idioten geschaffen – es erzeugt sie! Das schlug damals knallhart ein. Und was schlägt dein Snyder nun vor, was wir tun sollten?

  • Wie gesagt, lesen, mein lieber Jupp. Ich zitiere einfach weiter: „Um aber über einen solchen Rahmen zu verfügen, brauchen wir mehr Begriffe, und um über mehr Begriffe zu verfügen, müssen wir lesen. Also verbanne die Bildschirme aus deinem Zimmer und umgib dich mit Büchern. Die Protagonisten in den Romanen von Orwell und Bradbury konnten das nicht tun, aber wir können es – noch.
    Was soll man lesen? Jeder gute Roman belebt unsere Fähigkeit, über widersprüchliche Situationen nachzudenken und die Absichten von anderen zu beurteilen.“ Soweit Timothy Snyder. Ich befasse mich gerade mit Hannah Ahrendts Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, das Standardwerk der Totalitarismus-Forschung mit über 1000 Seiten. Sie untersucht darin die historische Entstehung und die gemeinsamen politischen Merkmale des Nationalsozialismusund des Stalinismus.   

 Also Lesen statt Glotze gucken. Das lenkt sicherlich von der momentanen Weltlage etwas ab. Anstatt solcher wissenschaftlichen Wälzer bevorzuge ich aber lieber ein paar klassische Krimis oder gute Science-Fiction, wobei ich da die dystopischen Romane nicht mehr anfassen werde.

  • Ja, auch nicht verkehrt. Es ist aber wichtig, beim Lesen zu erkennen, was sich im Hintergrund der Geschehnisse abspielt. Hannah Ahrendt hat zur Zeit der Studentenbewegung Ende der 1960-Jahre auch ein Buch über „Macht und Gewalt“ geschrieben. Ich lernte daraus, dass das Menschsein ein ewiger Kampf um die Macht ist.

Na klar, der uralte Darwin’sche Kampf des Stärkeren, also des Mächtigeren: der Ehemann demütigt seine Frau, der Vater ohrfeigt das Kind, der Chef belästigt seine weiblichen Untergebenen, Lehrer und Priester missbrauchen ihre anvertrauten Kinder. Staatsmänner werfen Oppositionelle in Gefängnisse. Gib einem Underdog eine Waffe in die Hand, und er kann nun ohne ein Risiko mit stolzgewellter Brust den Stärkeren erschießen. 

  • Ein Machtgefühl kann sich aber auch ohne Gewalt einstellen. Schau dir mal die positive Seite von Machtausübung an: Popstars füllen mit ihrer Musik riesige Arenen. Der Papst versammelt in Manila zwei Millionen Gläubige zu einer Messe. Fußballstars begeistern mit ihrer Ballkunst, Sportler gelangen mit Höchstleistungen an ihre körperlichen Grenzen.

Ja schön, Ingo. Aber der kleine Mann kann auch mit seinem Machtgefühl nerven: der Ordnungshüter, der mit Knöllchen gegen Falschparker vorgeht und der Beamte, der einen Antragsteller genüsslich warten und wie einen Bittsteller aussehen lässt. Presseredakteure zerstören politische oder persönliche Karrieren, Medienmanager entscheiden über den Aufstieg von C-Prominenten. Und die traurige Krönung im Gesundheitswesen stellt sicherlich der Krankenpfleger Niels Högel dar, der sechs Jahre lang auf der Intensivstation hunderte von Patienten umbrachte. Er entschied täglich wie ein absoluter Tyrann über Leben und Tod.

  • Aber du siehst in unserer Zeit, dass der Mächtige auch mit heftiger Gegenwehr rechnen muss. Die Unzufriedenen haben Mittel und Wege für eine Gegenmacht entwickelt: die Pegida gegen die Flüchtlingspolitik, die AfD gegen den Euro, die Querdenker gegen den Masken- und Impfzwang. Die Reichsdeutschen ignorieren die deutsche Staatsmacht und kämpfen gegen eine obskure BRD GmbH.

Die Reichsbürger lassen sich vom verhassten Staat aber gerne die Rente auszahlen, so wie die Querdenker gut von Hartz 4 leben, nur mal angemerkt, Ingo. Apropos Gegenmacht: nicht zu vergessen die Viren, die unserer etablierten Gesellschaft schwer zu schaffen machen: der Corona-Virus stürzt die Menschheit in ein Chaos und unsichtbare Computerviren erreichen dasselbe Ziel bei Institutionen aller Art. Gegen diese Gewalt ist kaum ein Kraut gewachsen.

  • Man darf auch nicht die Macht des geschriebenen Wortes unterschätzen. Emile Zola hat 1898 wegen eines Machtmissbrauchs einen offenen Brief an den Staatspräsidenten geschrieben, tituliert mit „J’accuse“. Er hat damit einen großen politischen Skandal ausgelöst und der Dreyfus-Affäre eine entscheidende Wendung gegeben. Und heutzutage hat Greta Thunberg durch einen simplen Sitzstreik an ihrer Schule die weltweite Bewegung „Fridays for Future“ gegründet.

Ja, ein einzelner Mensch kann tatsächlich viel bewegen, im Guten wie im Schlechten. Zivilcourage gegen Machtmissbrauch hätte ich mir aber bei den Teilnehmern an diesem berühmten Milgram-Experiment gewünscht. In der ersten Versuchsreihe waren damals zwei Drittel der Probanden bereit, einen angeblichen Schüler für falsche Antworten mit schweren Elektroschocks zu bestrafen, nur aufgrund des Machteinflusses des Versuchsleiters.

  • Richtig, Jupp. Es gab danach noch eine Steigerung: das Stanford-Prison Experiment. Einfache Menschen übernahmen Rollen als Wärter und Gefangene in einem fiktiven Gefängnis. Nach drei Tagen geriet das Experiment außer Kontrolle, weil einige Wärter sadistische Tendenzen zeigten und musste abgebrochen werden. Unter Druck werden normale Menschen zu Folterknechten. Diese menschlichen Verhaltensmuster zur exzessiven Ausübung von Macht sind möglicherweise auch die Ursache für die Grausamkeiten von Soldaten im Krieg. Der Lack der Zivilisation ist sehr dünn und bei Belastung wird er schnell brüchig. 

Ich habe gerade ein Interview mit dem britischen Historiker Simon Sebag Montefiore gelesen. Beim Ukraine-Krieg kommt seiner Ansicht nach erschwerend hinzu, dass die geschichtlichen Vorbilder von Putin auch grausame Herrscher waren. Und dadurch sehr erfolgreich. Das dreihundertjährige Reich der Romanow-Zaren umfasste 1890 unter Nikolaus II. ein Sechstel der Erdoberfläche. Seit fünfhundert Jahren führten fast alle Zaren ein brutales Regime, welches Stalin dann im 20. Jahrhundert genauso menschenverachtend fortsetzte.  Putin will nun das Drehbuch der Romanows weiterführen und nach dem beschämenden Zusammenbruch der Sowjetunion „Ruhm und Ehre Russlands“ wieder herstellen. Und er ist ja in den Jahren seiner Regentschaft dank der Behäbigkeit des Westens immer wieder erfolgreich gewesen: Tschetschenien, Georgien, Syrien, Krim. Putins Lieblingszitat stammt von Zar Alexander III, der die erste Geheimpolizei einführte: „Ich brauche bloß zwei Verbündete: die Armee und meine Marine.“

  • Damit landen wir wieder bei Darwin und dem Recht des Stärkeren. „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“ fand schon damals Mao Tse-Tung. Eine derartige Staatsräson führt zu unvorstellbaren Leiden, wenn sie unerbittlich durchgesetzt wird. In den zwölf Jahren, als Hitler und Stalin gleichzeitig an der Macht waren, wurden in den sogenannten Bloodlands, das sind Polen, Belarus, Ukraine, das Baltikum und Westrussland, vierzehn Millionen unbewaffnete Zivilisten ermordet, zusätzlich zu den Millionen Soldaten, die auf den Schlachtfeldern starben. Friedrich Dürrenmatt forderte folgerichtig: „Die Herrschenden müssen bewacht werden, nicht die Beherrschten.“

Aber Ingo, was können denn die heutigen Politiker einem solchen Regime entgegensetzen? Wir wollten die Minimierung von Kriegsrisiken mit der Strategie „Wandel durch Handel“ erreichen, getreu der Einsicht, dass sich jeweils gutverdienende Handelspartner nicht gegenseitig an die Gurgel gehen und ihr lukratives Business zerstören.

  • Ich glaube, unsere Politikerkaste hat viele Jahre lang mit dem hungrigen Blick auf die günstigen Öl- und Gaslieferungen aus Russland die permanenten Warnzeichen vor dem Putinschen Imperalismus ignoriert. Die Regierungen waren in dem guten Glauben, nach dem Herunterfahren der Atom- und Kohlekraftwerke mit Gas und Öl die Klimakrise meistern zu können. Deswegen übertrafen sie sich gegenseitig mit dem Werben um Putins Wohlwollen, geradezu blindlings. Der Klappentext zum Tyrannei-Buch von Timothy Snyder lautet: „Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam! So lautet die erste von zwanzig Lektionen für den Widerstand, mit denen Timothy Snyder die Bürger der Vereinigten Staaten auf das vorbereitet, was gestern noch unvorstellbar zu sein schien: einen Präsidenten, der das Gesicht der Demokratie verstümmelt und eine rechtsradikale Tyrannei errichtet.“ Es war gerade die Zeit, als Trump die Wahl gewann.

Putin war ja auch das Gegenbeispiel zum verhassten Donald Trump. „Ein lupenreiner Demokrat“ definierte ihn einst unser Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Dabei hatte Putin mit seinen fünften Kolonnen überall die Finger drin: 2008 beim Bankencrash, beim Brexit, im Syrienkrieg, bei der Trumpwahl, bei dem Widerstand der Querdenker – überall sät er im Untergrund systematisch ein Misstrauen in die Stärke der Demokratie und ihrer Institutionen. Aber wie kann man Putin nun wirksam stoppen? Die mittlerweile fünfte Phase der EU-Sanktionen hat die Verehrung des neuen Zaren in der russischen Bevölkerung anscheinend nur verstärkt.

  • Möglicherweise liefert Charles Baron de Montesquieu dazu eine Antwort: „Es ist eine ewige Erfahrung, dass jeder Mensch, der Macht in Händen hat, geneigt ist, sie zu missbrauchen. Er geht soweit, bis er Schranken findet.“ Die Drangsalierung des russischen Volkes beeindruckt Putin in keiner Weise, er sitzt mit seiner Kreml-Truppe ja gut versorgt in den Palästen und beobachtet amüsiert die finanziellen Krisen in Europa und den USA. Es braucht also ein überzeugendes Zeichen, dass es eine stärkere Macht als ihn gibt. 

Aber welche denn? Die Großmächte USA und EU haben ihn bislang nicht sehr beeindruckt. Zudem hat er sich auf der letzten Olympiade mit der kommenden Weltmacht China verbündet und fühlt sich nun stark genug, das kommunistische System zum Sieg über den dekadenten Westen zu führen.

  • Na ja, die amerikanische Militärhilfe hat der Ukraine bislang das Überleben ermöglicht. Und die Europäer liefern nun schwere Waffen. Nein, ich meine den Cyber-War. Die Idee basiert darauf, dass Russland am Aufbau eines eigenen Internetsystems arbeitet, dem RuNet, um gezielt die „propaganda-schädlichen“ Einflüsse der westlichen Nachrichten und Social Media abzuschalten. Allerdings ist die russische Wirtschaft weiterhin auf die Teilnahme am weltweiten Internet angewiesen. Eine Empfehlung lautet, dass man als Warnung nur für wenige Stunden einmal das gesamte Land radikal vom Internet abschneidet – technisch ohne weiteres machbar. Für Putins Wirtschaft wäre das ein Super-GAU und die Abschaltung über eine längere Zeit würde zu einem völligen Kollaps aller systemrelevanten Geschäftstätigkeiten führen. Beispiel Nord-Korea. Die wirtschaftliche Schwäche Russlands ist die größte Gefahr für das Putin-Regime. 

Ach, Ingo. Ein riesiges Nordkorea als unsere nächsten Nachbarn? Grauenhaft. Lass uns bitte dieses Thema beenden. Ich denke gerade daran, wie wir den größten Teil unserer beiden Leben ohne irgendein Internet und Handy ausgekommen sind. In ihrer Kolumne beim SPIEGEL empfiehlt die Redakteurin Sibylle Berg Kühe melken gegen die Dauerpanik: „Tiere machen guten Laune (wenn man sie nicht schlachtet).“  Sicherlich bringt statt der Milch von glücklichen Kühen jetzt ein gepflegtes Bier unser Fühlen und Denken wieder in eine bessere Balance.

  • Also Jupp, das hört sich tatsächlich nach einer guten Idee an. Lass uns das gleich in die Praxis umsetzen. Auf dass der Phönix-Vogel möglichst bald und glückverheißend aus seiner Asche aufsteigen kann. Prost.

# # # 

Ich fühlte eine tiefe Erleichterung. Endlich hatte ich die Macht über das Ganze und konnte Befehle geben. Ich hatte das Gefühl, mit dem Schicksal zu wandeln.

Mein ganzes vergangenes Leben schien mir jetzt nichts als eine Vorbereitung gewesen zu sein, eine Vorbereitung auf diese Stunde.

(Sir Winston Churchill)

 

Krieg ist zuerst die Hoffnung, dass es einem besser gehen wird,

hierauf die Erwartung, dass es dem anderen schlechter gehen wird,

dann die Genugtuung, dass es dem anderen auch nicht besser geht,

und hernach die Überraschung, dass es beiden schlechter geht.

(Karl Kraus)

 

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von Ingo Nöhr

Ich pflanze noch ein Apfelbäumchen

Ingo Nöhr zum 1. April

Angesichts der täglichen Grausamkeit im ukrainischen Kriegsgebiet ist den beiden Freunden Ingo und Jupp der Spaß an einem Aprilscherz vergangen. Kaum vorstellbar, wie dort unter diesen Umständen noch eine medizinische Versorgung der vielen Verwundeten möglich ist. Das bisher meist einvernehmlich regulierte Weltgeschehen schlägt schlagartig in eine brutale Machtpolitik um. Die neue Wirklichkeit hat den Koalitionsvertrag der drei Ampel-Parteien ignoriert und die Regierung arbeitet nun fieberhaft an einem Neustart aller strategischen Ziele in der Verteidigungs-, Energie-, Haushalts- und Sozialpolitik. Die Klimapolitik und die Pandemiebekämpfung müssen jetzt erstmal warten. Fraglich ist, wie lange die Umwelt und das Corona-Virus sich das noch gefallen lassen.

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Hallo, Ingo, jetzt steht ja dein damals prophezeiter Weltumbruch kurz bevor. Siehst du irgendwo schon den Phönix aus der Asche steigen? Sollte der durchgeknallte Putin tatsächlich auf seinen roten Atomknopf drücken, würde sich dein Vogel eine Menge Radioaktivität einfangen.

  • Ja, Jupp, ich kann deine Stimmung gut nachvollziehen, schließlich befinden wir uns nun schon seit zwei Jahren im permanenten Krisenmodus. Und auf keinem Gebiet zeichnet sich eine nachhaltige Lösung ab, weder bei der Pandemie, dem Klimawandel noch im kriegerischen Expansionswillen von Despoten. Und am Horizont läuft sich schon Donald Trump für eine neue Amtszeit warm.

Als was wird diese Periode wohl später in die Geschichtsbücher eingehen? Die drei großen Imperien USA, China und Russland befinden sich im finalen Machtkampf und mittendrin ein meist zerstrittenes und chaotisches Europa. Erleben wir gerade live den Zerfall der alten Machtblöcke wie beim Untergang der Sowjetunion und dem britischen Empire? Wer wird der Nachfolger, etwa China?

  • Das wird dir heute noch keiner sagen können, Jupp. Schließlich handelt es sich um ein hochkomplexes dynamisches System, wo schon kleine Änderungen unabsehbare Folgen auslösen können. Vergiss nicht die einfachen Menschen an der Basis. Sie haben durch ihren Protest gegen die Machthaber letztendlich Trump abgewählt, die Berliner Mauer eingerissen, die Wiedervereinigung Deutschlands erreicht und die sowjetischen Bruderstaaten in die EU eingebracht. Du erkennst die schlummernde Energie der Bürger in der unbeschreiblichen Solidarität und Hilfeleistung mit den fliehenden Ukrainern. In diesem zutiefst menschlichen Selbstverständnis sehe ich den unzerstörbaren Kern der Freiheitsliebe und die Quelle des Widerstandes gegen Despoten aller Art.

Da magst du als unverbesserlicher Optimist vielleicht Recht haben, aber aktuell sollten wir uns schleunigst mal nach einem atombombensicheren Bunker umschauen. Schließlich hat der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gedroht, dass Russland nicht zögern würde, Atomwaffen bei „existenzieller Bedrohung“ einzusetzen. Unser Zivil- und Katastrophenschutz ist doch kaputtgespart worden. Die Alarmsysteme sind größtenteils festgerostet oder demontiert. Wahrscheinlich müssen uns im Ernstfall die Kirchenglocken alarmieren, wie im Mittelalter. Von den 2000 Bunkern des Kalten Krieges sind nur noch 600 übriggeblieben. Sogar der Regierungsbunker in der Eifel ist mit Millionen Kosten wieder abgebaut worden, weil es hieß: „Die Regierung kümmert sich ja um den Frieden und daher braucht sie keinen Zufluchtsort vor dem Krieg.“

  • Aber zu deiner Beruhigung, Jupp: wir werden nicht gleich verhungern. An 150 geheimen Orten werden noch heute Nahrungsmittel-Notrationen von Weizen, Roggen, Hafer, Reis, Erbsen, Linsen und Kondensmilch gelagert – insgesamt rund 130.000 Tonnen. Und das Technische Hilfswerk kann rund 400.000 Menschen mit Trinkwasser versorgen. Über die Biervorräte konnte ich allerdings nichts in Erfahrung bringen.

Also, sehr beruhigend zu wissen. Wir können die ersten Wochen nach dem Atomschlag noch überleben. Hoffentlich fällt er in den Sommer, sonst müssen wir nämlich frieren. 2015 gab der deutsche Energieversorger Wintershall alle deutschen Erdgasspeicher in die russischen Hände der Gasprom-Tochter Astora.

  • Jupp, wir sind ja selber verantwortlich: wir lebten auf einer Insel der Seligen. Deutschland hat seine Sicherheit in die Vereinigten Staaten, seinen Energiebedarf nach Russland und sein vom Export getragenes Wirtschaftswachstum nach China ausgelagert. Daher konnte man unsere Bundeswehr als kostengünstige Friedensarmee ohne funktionierende Waffen führen, billiges Öl verprassen und in weltverseuchendes Mikroplastik verwandeln. Für den täglichen Konsum von chinesischer Billigware war Amazon zuständig. Jetzt ist die Zeit im Schlaraffenland wohl vorbei und die harte Wirklichkeit holt uns ein. Wie immer, sind wir nicht gerade angemessen darauf vorbereitet.

Also gilt wieder einmal: Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Vielleicht noch der nette Nachbar. Die Ahrweiler können ja ein Lied davon singen. Unser tolles Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe empfiehlt jedem Bürger, eine Reserve anzulegen, sodass ein Haushalt ohne Einkaufen und Wasserzufuhr zehn Tage überleben könnte. Also denk bitte daran, lieber Ingo, genügend Klopapier und Sonnenblumenöl einzulagern. Und für zehn Euro kannst du dir das Buch „Kochen ohne Strom“ mit vielen Rezepten kaufen.

  • Aber Jupp, die Ausgabe für das Buch werden wir uns doch locker leisten können, wenn jetzt im Sommer unsere Renten so stark steigen wie lange nicht. Eigentlich erstaunlich. Schließlich hat unser Finanzminister Christian Lindner noch im Wahlkampf und sogar im Koalitionsvertrag absolute Sparsamkeit verkündet: „Die Grundwerte von Freiheit und Selbstbestimmung sind für uns nicht verhandelbar. Einer Regierung könnten wir deshalb nicht beitreten, die Steuern erhöht und die Schuldenbremse missachtet.“ Jetzt unterschreibt er einen Scheck nach dem anderen: 100 Milliarden für das Militär, Dutzende Milliarden für das Klima, und weitere für den beschleunigten Ausbau des Sozialstaates, aktuell neues Geld für die Flüchtlinge. Vermutlich steht auch bald eine Diätenerhöhung für die Politiker an.

Ja, erstaunlich, Ingo, wo das Geld plötzlich herkommt – alles für superteure Reparaturen der Altlasten früherer Regierungen. Mir kommt da ein Spruch in den Sinn: „Ich kann jetzt nicht den Weidezaun reparieren, denn ich muss ständig die entlaufenen Kühe wieder einfangen!“ Durch dieses Verhalten hat sich unsere Staatsschuld in den letzten 15 Jahren auf 2.300 Milliarden Euro verdoppelt, das macht fast 30.000 Euro pro Kopf. Da werden unsere Urenkel beim Zurückzahlen aber heftig auf uns fluchen.

  • Vielleicht bekommen unsere Urenkel die Rechnung gar nicht mehr auf den Tisch. Ich hatte da gerade eine Vision, als ich an die kommenden Innovationen der Rüstungsindustrie dachte. Die Kampfdrohnen und anderen Lenkwaffen sollen doch autonom von Künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Was wäre, wenn die KI plötzlich Super-Intelligenz entwickelt und sich entscheidet, einfach zum Abschussort zurückzufliegen, um dort den Angreifer in die Luft zu jagen. Wenn das alle intelligenten Waffensysteme machen würden, müssten wir wieder Mann gegen Mann mit Keulen und Speeren kämpfen.

Da würden sich die Menschen aber reichlich dumm vorkommen. Eine Maschine ist schlauer als sie - das kratzt bestimmt mächtig am Selbstbewusstsein. Ich habe gerade eine andere Idee, die mir als Pessimisten näher liegt. Nimm mal folgendes Szenario an: ein großer Asteroid ist auf den Weg zur Erde, der Aufprall in wenigen Wochen ist unvermeidlich. Plötzlich ist die gesamte Menschheit von der Vernichtung bedroht. – Jaaa Ingo, ich gebe zu: die Story habe ich von den letzten Katastrophenfilmen geklaut. Aber lass uns trotzdem mal spekulieren. Wie würden sich die Menschen vor der drohenden Apokalypse verhalten?

  • Ich denke mal, sehr unterschiedlich, je nach Mentalität und Kultur. Die Religiösen würden ihr Heil in den Gebeten suchen, die Buddhisten bereiten sich mit guten Taten auf die Reinkarnation vor. Die esoterischen Gurus würden den Asteroiden als Raumschiff einer fremden Rasse begrüßen. Die Kapitalisten könnten extrem verteuerte Bunkerplätze verkaufen. Putin würde sicherlich mit Militärgewalt noch schnell ein paar ehemalige Ostblockländer in sein Reich heimholen. Die Oligarchen steuern mit ihren Super-Yachten die Antarktis an. Elon Musk, Jeff Bezos und Richard Branson machen ihre Raketen und Raumschiffe für den Mond oder den Mars klar. Und was machst du, mein lieber Jupp? Als Pessimist wärest du ja eigentlich gut auf ein solches Szenario vorbereitet.

Gute Frage. Ich würde mein ganzes Geld zusammenkratzen, alle meine Freunde einladen und bis zum Knall eine rauschende Party veranstalten - in dem schönen Gefühl, dass in Kürze alle meine Sorgen und Ängste ein Ende finden werden. Und jetzt will ich aber wissen, wie du dich verhalten würdest, Ingo.

  • Ich würde mich an den Vorschlag von Martin Luther halten: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Und dazu lese ich das passende Buch von Hoimar von Ditfurth mit dem Titel „So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen – es ist so weit“. Schon im Jahre 1985 hat er die bevorstehende Endzeit beschrieben: Atomkrieg, Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion und die Unfähigkeit der menschlichen Gesellschaft, darauf angemessen zu reagieren. Immerhin haben wir noch 37 Jahre lang durchgehalten. Und natürlich, als unverbesserlicher Optimist hoffe ich darauf, dass der Asteroid die Erde nur am Rande streifen wird, wie ein flacher Stein auf dem Wasser abprallen und wieder ins Weltall entschwinden wird. So what?

Wow, Ingo. Ich habe den Eindruck, wir beide könnten der Katastrophe gefasst ins Auge schauen. Dann lass uns mal auf eine hoffnungsfrohere Zukunft mit einem gepflegten Bier anstoßen. Wie gut, dass der Hopfen nicht aus der Ukraine kommt. Oh, das ist schon wieder unser Stichwort. Dazu sollten wir jetzt mal ein paar Gedenkminuten für die Menschen einlegen, die in der Realität gerade die menschgemachte Hölle auf Erden erleben.

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„Alle die fahlen Rosse der Apokalypse sind durch mein Leben gestürmt, Revolution und Hungersnot, Geldentwertung und Terror, Epidemien und Emigration; ich habe die großen Massenideologien unter meinen Augen wachsen und sich ausbreiten sehen, den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland, den Bolschewismus in Russland und vor allem jene Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat.“ 
(Stefan Zweig, Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers, 1942)

„Selbst wenn also eine Zombie-Apokalypse stattfinden sollte, werden Sie dank des Tesla-Supercharging-Systems immer noch imstande sein, zu reisen.“  
(Elon Musk, US-amerikanischer Unternehmer)

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von Ingo Nöhr

Zeitenwende

Ingo Nöhr zum 1. März 2022

Unglaubliches ist geschehen. Plötzlich wird in Europa ein Land überfallen. Ein „lupenreiner Demokrat“ hat sich überraschend als machtbesessener Kriegsverbrecher geoutet. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich wegen „ukrainischen Säbelrasselns“ endgültig in eine tragische Gestalt gewandelt. Gerade haben sein langjähriger Büroleiter und drei weitere Mitarbeiter gekündigt, Kreisverbände fordern wegen parteischädigendem Verhalten seinen Ausschluss aus der SPD.  Seine bisherigen Rednerhonorare von 50.000 bis 75.000 Euro dürften nun mangels Nachfrage drastisch sinken. Und wie lange der Steuerzahler sein Alt-Kanzlerbüro noch mit jährlich 407.000 Euro finanzieren muss, steht auch in den Sternen. Aber das ist momentan wohl das kleinste Problem.

„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf.“
Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Februar 2022

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Mensch Ingo, was für eine Woche! Wir erleben eine Zeitenwende! Live! Und wir sind mittendrin! Weltgeschichte. Wie damals am 11. September 2001, als die USA angegriffen wurde. Diesmal wird die bestehende Weltordnung mit ihrer „Friedensdividende“ angegriffen.

  • Ja, Jupp. Es macht mich sprachlos. So drastisch hatte ich mir disruptive Politik nie vorgestellt. Nur erleben wir diesmal keinen Sprung vorwärts, sondern einen Rückfall in den Kalten Krieg, nein, sogar bis in die steinzeitliche Welt: „Gib mir dein Essen und deine Frauen, denn ich habe die größere Keule!“.

Angeblich ist Putin ja ein gläubiger Mensch, aber da hat er wohl das Alte Testament nicht sorgfältig gelesen und gelernt, wie damals der Kampf zwischen David und Goliath ausgegangen ist.

  • Der Vergleich passt gut. So wie die Bibel den damaligen Krieg weltweit berühmt gemacht hat, so verfolgt nun auch der größte Teil der Menschheit mit großer Anteilnahme den verzweifelten Überlebenskampf der Ukrainer. Diesmal aber in Echtzeit und nicht nur als Zuschauer. Und in oft ohnmächtiger Wut und schlechtem Gewissen werden nun alle verfügbaren Mittel eingesetzt, um den rasenden Despoten zu isolieren.

Ja, Ingo, hat es schon jemals so eine Solidaritätswelle auf der Erde gegeben? Putin ist bis auf ein paar andere getreue Despoten weltweit von allen modernen Medien abgeschnitten: Flugverkehr, Facebook, Handel und Banken, Kulturveranstaltungen, sogar alle Sportereignisse – alles macht nun einen großen Bogen um Russland.

  • Wobei die Leidtragenden bei den Diktatoren immer die Bevölkerung ist, die bei Widerspruch mit ihrem Protest von den Schergen der Regierung brutal niedergeknüppelt und weggesperrt wird. Kasachstan, Belarus, Türkei, China, Myanmar, - die Liste ist noch lange fortzusetzen. Langfristig, das zeigt durch unsere eigene Geschichte mit der DDR, lässt sich ein Volk nicht ruhigstellen. Es brodelt unter der Oberfläche als schwelende Zeitbombe und letztendlich zersetzt Unterdrückung und Korruption einen Staat unwiderruflich von innen. Nichts ist ausdauernder als der Wunsch nach Freiheit. Gegen diesen Drang kann keine Regierung langfristig bestehen, ebenso wenig ein Tyrann mit seiner Armee.

Nelson Mandela hat es mal so ausgedrückt: „Nicht die Gewehrkugeln und Generäle machen Geschichte, sondern die Massen.“ Die Masse, also das regierte Volk ist nicht mehr so leicht ruhigzustellen. Es begehrt auf, trotz brutaler Unterdrückung wie in Kasachstan, in der Türkei, in Moskau und in Weißrussland. Was man mit Gewalt gewinnt, kann man nur mit Gewalt behalten. Und Abraham Lincoln hat schon damals festgestellt: „Kein Mensch ist gut genug, einen anderen Menschen ohne dessen Zustimmung zu regieren.“

  • Ja, Jupp, das sieht aber ein psychotischer Despot etwas anders. Interessant, dass du gerade Abraham Lincoln zitierst. Leider hatte diese Mahnung auf Donald Trump keinen Eindruck gemacht. Solche Herrscher haben doch längst die Bodenhaftung verloren und sich mit einem Heer von Hofschranzen umgeben, nachdem sie alle Störer und Kritiker eliminiert haben, inklusive der Opposition im Parlament und im Volk. Putin sitzt isoliert von allen Korrektiven im Machtzentrum, bisher getragen von den milliardenschweren Oligarchen, die mit ihm das Land ausgeplündert haben.

Bei den Oligarchen wäre ich mir aktuell nicht mehr sicher. In den letzten Tagen wurde eine Massenflucht von Privatjets und Luxusjachten aus dem Einflussbereich der EU beobachtet. Die Sperrung ihrer Konten und Abschaltung des SWIFT hat sie schwer verunsichert. Vielleicht verstehen sie jetzt die Warnung von Thomas Jefferson besser, dass nämlich Banken gefährlicher sind als stehende Armeen.

  • Eigentlich fing es nach Putins Darstellung doch ganz harmlos an: eine begrenzte Spezialoperation in der nunmehr unabhängigen Donezk- und Luhansk-Region, die ihn zu Hilfe gerufen hatte, um den angeblichen Genozid an der russischen Bevölkerung zu beenden. Kurz danach musste zur Entmilitarisierung das unterdrückte Ukraine-Volk von den Neonazis und Drogenbanden in ihrer Regierung befreit werden. Der kleine russische Bruder hätte die Befreier jubelnd begrüßen sollen und der eventuelle Widerstand der vom Westen verblendeten Nationalisten wäre schnell beendet worden.

Ja, dann passierte aber leider eine unverzeihliche Panne bei den russischen Staatsmedien. Die längst vorbereitete Siegesrede von Putin wurde schon am Samstag vorschnell veröffentlicht. Titel: „Der Aufbruch Russlands und der neuen Welt.“ Die Militäroperation habe nun eine neue Ära eingeleitet. Die drei Nachfolgestaaten der historischen Kiewer Rus, nämlich Russland, Belarus und die Ukraine, sind nun wiedervereint. Wladimir Putin habe eine historische Verantwortung auf sich genommen, indem er beschlossen habe, die Lösung der ukrainischen Frage nicht künftigen Generationen zu überlassen. Und jetzt kommt die wahre Mission ans Tageslicht: nicht nur die Einheit Russlands wieder herzustellen, sondern die Tragödie von 1991, den Zerfall der Sowjetunion, rückgängig zu machen. Das war für ihn „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

  • Es sollte ja ein schneller Enthauptungsschlag werden, ein Blitzkrieg, der in 48 Stunden vorbei sein müsste. Kurz mit einem gezielten Angriff die Luftverteidigung ausschalten, ins wehrlose Kiew einmarschieren, eine russlandfreundliche Regierung einsetzen, so, wie es oft schon geklappt hat, und fertig wäre die erste Stufe seines Plans. Wenn der Westen mit Einmischung stören sollte, genügt ein Wink mit der erhöhten Einsatzbereitschaft der Atomstreitkräfte.

Wenn solche Machthaber auch noch einen Finger auf dem Startknopf für Atomraketen legen können, dann wird es für die Welt höchstgefährlich. Und gerade die ukrainische Bevölkerung ist durch den katastrophalen Reaktorunfall in Tschernobyl alarmiert. Aber mit Nuklearschlägen haben sich bereits Donald Trump und Kim Jong-un bedroht. Solche Geisteskranke sollten bereits lange vor ihrer politischen Karriere bei einem Psychologietest durchfallen und aus dem öffentlichen Verkehr gezogen werden können.

  • Es ist ja nicht nur „Putin der Große“, der von seiner historischen Aufgabe der Neugeburt des alten russischen Reiches besessen ist. Erdogan träumt vom osmanischen Reich und China will sich Taiwan wieder einverleiben. Trump wollte sein Amerika der Weißen Männer wieder groß machen. Stell dir mal vor, ein Bernd Höcke von der AfD mit einer Regierung aus Rechtsradikalen übernimmt die Macht und will mit starker Hand das Dritte Reich in den alten Grenzen wieder herstellen. Das ist ja gerade das Gefährliche, was Konfuzius schon vor 2500 Jahren erkannt hat: „Der Anführer eines großen Heeres kann besiegt werden. Aber den festen Entschluss eines Einzigen kannst du nicht wankend machen.“ Putins Entschluss reifte schon vor 20 Jahren: erst die Donbass-Region, dann ganz Ukraine und schließlich alle Russen vereinen. Die neue Welt Russlands bricht an. Und letztendlich die glorreiche Sowjetunion in ihren alten Grenzen.

Konfuzius trifft auch auf den neuen Nationalhelden Präsident Selenskyj zu, den wohl die stärkste denkbare Motivation eines einzelnen Menschen antreibt, nämlich das Überleben seiner Person und seiner Heimat. In Krisen zeigt sich die echte Größe und der wahre Charakter eines Menschen, im Guten wie im Schlechten. Selenskyjs Präsenz in den Internetmedien hat eine weltweite Lawine an Solidarität losgetreten, dem kaum eine Regierung etwas entgegensetzen kann.

  • Sein Gegenspieler Putin wurde kürzlich von der Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, als „einer der größten Einiger der NATO in der modernen Geschichte“ bezeichnet. „Was Sie hier sehen, ist ein geeinigtes Europa, ein geeinter Westen, eine geeinte NATO, die sich gegen die von Präsident Putin angeführte Aggression und Invasion wehren.“ Und so gesehen, hat er auch in Deutschland Unglaubliches bewegt: Seit letztem Monat hat unsere Regierung und die CDU/CSU jahrzehntelang einzementierte Grundsätze umgestoßen.

Nun ja, wir hatten solche Überraschungen schon öfter. Die SPD hat den Sozialstaat zerschlagen, die CDU hat die Atomkraftwerke abgeschaltet, die Grünen wollen sie womöglich wieder anschalten.  Die SPD und Grüne beschließen ein gewaltiges Rüstungsprogramm und freunden sich mit dem Einsatz von Fracking-Gas an.

  • Auch auf Druck von der Basis. Wir haben schließlich wieder ein starkes Wahljahr. Hunderttausende gehen in Solidarität mit der Ukraine auf die Straße oder widmen den traditionellen Rosenmontagsumzug in eine gigantische Friedenskundgebung um. Gegen diese Bilder hat Putin nicht viel gegenüberzustellen, seine Propagandalügen verfangen in der aufgeklärten Welt nicht mehr. 

Dabei wollte er von Anfang an mit seinen berüchtigten Hackerteams auch den Informationskrieg gewinnen und die Kommunikation über die Pressemedien und das Internet steuern. Der Cyberkrieg war anfangs wirkungsvoll und nebenbei waren 6.000 Windräder nicht mehr per Satellitenfunk zu steuern. Der große Cyberwar blieb allerdings noch aus.

  • Allerdings hatte Putin nicht mit der globalen Hackergruppe Anonymus gerechnet. In den Staatsmedien wie Russia Today erschienen plötzlich Solidaritätsmeldungen zur Ukraine, Webseiten des Kremls, der Duma und des Verteidigungsministeriums wurden durch Botnetz-Attacken lahmgelegt, die ukrainische Nationalhymne ertönt wider Erwarten zu russischen Sendungen, unterlegt mit verstörenden Bildern von der Situation im Kriegsgebiet. Der mutmaßliche Anführer der russischen Ransomware-Gruppe Conti fand plötzlich seine gesamten internen Chats des vergangenen Jahres öffentlich im Internet wieder, sehr zur Freude der internationalen Strafbehörden.

Aber Ingo, wie konnte es denn passieren, dass sich ein Profi wie Putin so mit seiner Strategie verschätzen konnte. Mag er sein militärisches Ziel der Eroberung der Ukraine auch militärisch erreichen, so ist er doch in politischer und finanzieller Hinsicht grandios gescheitert, und zwar für die nächsten Jahrzehnte.

  • Da ist die vorherige Risikoabschätzung gründlich in vielerlei Hinsicht schiefgelaufen. Zunächst einmal ist er kein erfahrener Krieger, denn er hat immer nur „special operations“ gegen kleinere und schwächere Gegner wie in Tschetschenien, Georgien und der Krim geführt. Die Reaktion der Weltgemeinde war abschätzbar und erträglich, der militärische Widerstand vernachlässigbar. Die Ukrainer haben 2014 gelernt, dass sie sich auf den nächsten Krieg vorbereiten müssen und sich mit modernen Waffen versorgt. Hunderttausende Soldaten erhielten durch Rotation in Kämpfen mit den Donbass-Russen wertvolle echte Kriegserfahrung. Nach der widerstandslosen Einnahme der Krim hat Putin die Leistungsfähigkeit und Kampfmoral der ukrainischen Armee entscheidend unterschätzt. Besonders überraschend für ihn ist wohl, dass Präsident Selenskyj als Kriegsheld an vorderster Front aushält, anstatt dass er schnell gefangen genommen oder vorher mit einem dicken Geldkoffer in die USA ausgeflogen worden wäre.

Gut Ingo, die Soldaten der russischen Armee scheinen bei weitem nicht so gut ausgebildet und motiviert zu sein. Einige Gefangene wähnten sich immer noch in einem Manöver. Aber glaubst du wirklich, dass die Ukrainer in ihren großen Städten angesichts der gewaltigen Übermacht noch lange den Widerstand aufrechterhalten können?

  • Nein Jupp, da haben sie militärisch wohl keine Chance. Aber politisch könnte sich plötzlich etwas bewegen, wenn die entscheidenden Kreise im Kreml mal endlich eine realistische Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen würden. Sie haben die Entschlossenheit des Westens komplett falsch eingeschätzt. Die EU war durch das Ende der Merkel-Ära geschwächt, die neue Bundesregierung musste sich erst finden und in Frankreich kämpft Macron im April um seine Wiederwahl. Biden hat innenpolitisch mit der gespaltenen US-Gesellschaft schwer zu kämpfen und will sicherlich keine amerikanischen Soldaten einsetzen. Ansonsten ist die Welt mit dem Klimawandel und der Corona-Pandemie weiterhin abgelenkt und sollte wohl nicht weiter die Kreise Putins stören.

Ich verstehe, Ingo. Wer hätte bei uns gedacht, dass sich der Westen angesichts der Invasion schlagartig zusammenschließt und beispiellose Sanktionen beschließt? Mit Maßnahmen, die unserer Wirtschaft auch sehr wehtun. Und zu einer SWIFT-Blockade führt, die schlagartig die Hälfte der 640 Milliarden Dollar Zentralbankdevisen einfriert. Für seine Kriegskasse kann Putin nur noch auf zusätzliche 90 in China gebunkerte Devisen-Milliarden zugreifen. Der wirtschaftliche Schaden durch die Kriegs- und Folgekosten ist noch unabsehbar, die geopolitischen Auswirkungen für Russland kaum vorstellbar.

  • Eigentlich ist es eine klassische Erfahrung, die sich einstellt, wenn man in einem komplex-dynamischen System an einem Punkt gezielt eingreift, um einen geplanten Effekt zu erzielen, ohne dass man die vielfältigen Vernetzungen und Reaktionen mit einem Risikomanagementsystem überschauen kann. Und in der Chaostheorie kennen wir den Katastrophenpunkt, der mit dem Schlag eines Schmetterlingsflügels anderswo einen Orkan auslösen kann. Putin hat kontinuierlich auf fast folgenlose Reizungen der westlichen Welt gesetzt, bis unerwartet ein Umkehrpunkt erreicht wurde, der einen kompletten Trendabbruch einleitete. In einem Lawineneffekt kollabierte das bislang tragende Gerüst der Bräsigkeit und schuf eine völlig neuartige Lage, für die kein Plan B existierte.

Ingo, bei mir schleicht sich gerade eine tiefe Besorgnis ein, wenn ich den neuen Bericht des Weltklimarats lese. Die Hälfte der Weltbevölkerung ist bedroht, wenn wir die globale Erwärmung nicht bei 1,5 Grad stoppen. Das Zeitfenster schließt sich immer schneller. Und wir verplempern unsere wertvollste Ressource mit durchgeknallten Despoten.

„Noch sind wir zwar keine gefährdete Art, aber es ist nicht so, dass wir nicht oft genug versucht hätten, eine zu werden.“ Das hat Douglas Adams mal geschrieben. 

Ingo, jetzt benötige ich mehr denn je deinen Optimismus.

  • Ich auch, mein lieber Jupp.

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Jede Kanone, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die hungern und nichts zu essen bekommen, denen, die frieren und keine Kleidung haben.

Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiß ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.

(Dwight D. Eisenhower, 1890 - 1969)

 

Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.

(Albert Einstein, 1879 - 1955)

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von Ingo Nöhr

Das Streitgespräch

Ingo Nöhr zum 1. Februar 2022

Der Jahresanfang 2022 hat es auch wieder in sich. Das neue Jahr wird seinen Vorgänger doch hoffentlich nicht mit noch krasseren Ereignissen übertreffen wollen. Zumindest sorgte es gleich zu Beginn mit nie erlebten Infektionszahlen, sodass selbst die Labore vor den Unmengen an angefragten PCR-Tests kapitulieren mussten. 5,6 Millionen Coronatote weltweit erreichen langsam die Marke der 2019 an Antibiotika-Resistenzen gestorbenen Menschen: 1,2 Millionen unmittelbar plus 5 Millionen Tote mit indirekter Beteiligung. Die Menschheit bereitet sich in den Augen der Apokalyptiker genüsslich auf ihre Auslöschung vor: ein Unterwasservulkan bricht aus, Hurrikane und Orkane überziehen die nördliche Hemisphäre, Überschwemmungen an vielen Orten.

Das urzeitliche Neandertaler-Gehabe durchbricht erneut die dünne Zivilisationsschicht: An der waffenstarrenden Ukraine droht ein Krieg auszubrechen. Die NATO schickt keine Soldaten, die Deutschen keine Waffen, dafür aber 5000 Helme. Den Atomkraftwerken soll nun, auch wegen der rasant steigenden Energiepreise und Klimaschäden, der Ehrenpokal der grünen Nachhaltigkeit verliehen werden. Der anfallende Atommüll wird ja für die nächsten zehntausend Generationen irgendwo in der Erde verbuddelt. Und der alte Papst Benedikt sieht sich angesichts des weltweiten systematischen Kindesmissbrauchs seiner Kirche eines heftigen Shitstorms ausgesetzt.

Nach uns die Sintflut? Die beiden Diskutanten Ingo und Jupp versuchen angesichts der aktuellen Weltlage, ihre Fassung zu bewahren und fokussieren sich bei ihrem Stammtischgespräch erstmal auf ein naheliegendes Problem: den Verlust ihres Impfstatus.

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  • Guten Morgen Ingo, genießt du auch deine letzten Tage als Geimpfter? Bald zählst du wieder zu den Ungeimpften, wenn du dich nicht schleunigst zum vierten Boostertermin anstellst.

Hallo Jupp, ja, wer hätte das gedacht. Statt nach sechs Monaten ist die Genesung der Deutschen schon nach dreien vorbei. Allerdings nicht im übrigen Europa, da gilt noch das halbe Jahr. Die Schweizer sind noch robuster: da hält der Genesenenstatus künftig neun Monate an. Aber ein Tipp für dich, Jupp: wärst du jetzt Mitglied im Deutschen Bundestag, dann gelten für die erlauchten Politiker weiterhin sechs Monate nach der Genesung.

  • Ja, erstaunlich, Ingo. Der Begriff „Abgeordneten-Immunität“ erhält dadurch eine ganz konkrete Bedeutung. Augenscheinlich hat die Politik auch die neun Millionen Kinder unter zwölf Jahren schon zur Durchseuchung freigegeben. Mindestens 2000 Kinder werden dann wohl am Pims-Syndrom erkranken, mehr als die Hälfte wird auf der Intensivstation landen. Von den Long Covid Folgen ganz zu schweigen. Ingo, erinnerst du dich noch an die Anfänge der AstraZeneca-Impfungen? Als einer von 100.000 Geimpften eine Sinusvenenthrombose bekommen hat, wurden sofort alle Impfungen gestoppt.

Aber zur Beruhigung der Bevölkerung wird nun eine Impfpflicht für das gesamte Pflegepersonal eingeführt. Menschen, die jetzt zwei Jahre lang bis zum Umfallen gegen den Covid-19-Tod angekämpft haben, stehen nun im Fokus. Aber nicht wegen ihrer erbärmlichen Gehälter, sondern weil sie angeblich eine Gefahr für die Patienten darstellen. Wenn nur fünf Prozent der Pflegekräfte ab dem 15. März nicht mehr zum Dienst erscheinen, bricht die Versorgung zusammen und die Bundeswehr muss wieder einspringen.

  • Du siehst, Ingo, die Maßstäbe im Pandemie-Management haben sich rasend schnell verändert. Wir haben in Deutschland 20 Millionen Ungeimpfte, die noch gegen kein Gesetz verstoßen haben. Wenn nun der harte Kern von geschätzten fünf Millionen konsequent die allgemeine Impfpflicht verweigert, … wie will man dieser großen Gruppe mit Bußgeldern und eventuell noch Beugehaft beikommen? Die Impfpassfälscher sehen goldene Zeiten auf sich zukommen. In Großbritannien, Spanien, Portugal und Österreich werden dagegen trotz vierstelliger Inzidenzzahlen schon alle Restriktionen aufgehoben. Israel, das Vorbild der Welt mit harten Lockdowns und straffen Impfkampagnen, will Corona in Zukunft wie eine Grippe zu behandeln, trotz Inzidenzen von über 4000 und einer Impfquote von nur 65 Prozent.

Irgendwie verständlich oder Jupp? Wir können ja nicht ganz Deutschland unter Quarantäne stellen. Weißt du, wie bei uns die Realität aussieht? Der Berliner Schriftsteller Wladimir Kaminer erzählte kürzlich eine Begebenheit seiner Therapeutin. Sie hatte in der Gemüseabteilung eines Supermarktes plötzlich eine Patientin getroffen, die sie zwei Tage vorher in ihrer Praxis positiv auf Covid-19 getestet hatte. Die sollte eigentlich eine Woche zu Hause ihre Quarantäne absitzen. Um sie nicht öffentlich zurechtzuweisen, ging sie zum Infopoint und bat die dortige Mitarbeiterin um folgende Ansage per Lautsprecher: Diejenige Person, die gerade in Quarantäne ist, soll sich unverzüglich am Infopoint einfinden, sonst muss das gesamte Kaufhaus auf ihre Kosten evakuiert werden. Zwei Minuten später standen 25 Menschen vor dem Infopoint und schauten einander misstrauisch an. Ihre Patientin war nicht dabei. Die Therapeutin machte sich dann kopfschüttelnd schnell vom Acker.

  • Ach Ingo, das kann ich verstehen. Ich habe letztes Wochenende ein stundenlanges Streitgespräch mit meinem Nachbarn geführt, der jetzt endgültig Deutschland verlassen will. Für und wider Corona. Ich bin nirgendwo mit meinen Argumenten durchgedrungen. Zu chaotisch stellt sich mittlerweile die Pandemiesituation in Deutschland dar.

Interessant, Jupp. Ich habe eine Idee. Lass uns dieses Gespräch mal mit verteilten Rollen wiederholen. Ich versuche dich von dem Nutzen der Impfung zu überzeugen und du übernimmst die Argumente deines Nachbarn. Aber bitte mit ausreichendem Niveau.

  • Gut, das können wir machen. Ich kenne seine Antworten schon auswendig. Dann leg mal los.

Also, wir leiden ja seit zwei Jahren an diesem Covid-19 Virus und wollen da nicht ewig in der Pandemiephase stecken bleiben. Es gibt nur einen einzigen richtigen Weg aus der Pandemie, nämlich impfen. Und zwar möglichst jeden.

  • Die Gefährlichkeit des Virus ist eine Erfindung, denn Coronaviren gibt es schon seit Jahrzehnten. Die Regierung schürt nur unnötig die Panik, um mithilfe von Bill Gates den Weg in eine Coronadiktatur zu ebnen.

Das ist doch Unsinn, eine absurde Verschwörungstheorie. Klar, wir tun alles, um auch die letzten Impfmuffel zu erreichen. Und weil gutes Zureden nicht nutzt, gibt es die 2G-Regelung, um die Geimpften vor den Nichtgeimpften zu schützen.

  • Wegfall der Lohnfortzahlung im Quarantänefall, Ausgrenzung gesellschaftlicher Teilhabe, zeitweilig die Abschaffung kostenloser Schnelltests, 2G plus – das ist doch die „schwarze Pädagogik“ der CDU/CSU; Zucht- und Erziehungsmaßnahmen aus dem vorletzten Jahrhundert, aber so sieht doch keine effektive Pandemiebekämpfung aus.

Aber es ist gut gemeint und die Pflicht des Staates. Wir wollen auch die Ungeimpften vor der Ansteckung schützen, vor der Einweisung auf die Intensivstation.

  • So so. Habt Ihr uns denn vorher mal gefragt, ob wir diesen Schutz überhaupt haben wollen? Ihr greift massiv in unsere Grundrechte ein.

Aber Ihr dagegen nehmt den Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems billigend in Kauf. Somit seid Ihr Impfverweigerer unsolidarische Egoisten!

  • Die Geimpften geben doch auch das Virus weiter und leisten damit ihren Beitrag zum Kollaps des Gesundheitssystems. Der Unterschied ist: sie tun es mit Genehmigung der Regierung.

Aber die Geimpften landen nicht so oft in den Intensivbetten wie Ihr und erkranken nicht schwer.

  • Also, für die Gesamtlage ist das wesentlich unerheblich. Die Leute, die uns jetzt erzählen, dass wir unser marodes Gesundheitssystem vor dem Kollaps schützen müssen, sind die dieselben Leute, die vorher in der Regierung dafür gesorgt haben, dass unser Gesundheitssystem überhaupt marode ist.

Es hilft ja nichts, ob marode oder nicht. Bei den exponentiell wachsenden Fallzahlen stößt auch das beste Gesundheitssystem irgendwann an seine Grenzen.

  • Unser Gesundheitssystem stand zu keinem Zeitpunkt vor dem Zusammenbruch, weil exponentiell wachsende Fallzahlen in einer Region eben irgendwann von selber an ihre Grenzen stoßen.

Das Ausbleiben des Zusammenbruches geschah aber nicht von selber, sondern nur aufgrund der Einschränkungsmaßnahmen und Impfkampagnen. Du siehst doch auch jeden Tag die Zahl der Geimpften. Wir haben eine gefährliche Impflücke.

  • Weißt du denn, wofür das zweite „G“ in 2G eigentlich steht? Wann wird man denn auch mal täglich die Zahl der Genesenen veröffentlichen? Schließlich sind schon acht Millionen Deutsche genesen.

Ja, aber jetzt musste man bei den Genesenen das Intervall für eine erneute Impfung von sechs auf drei Monate verkürzen, weil der Immunschutz nicht so lange anhält.

  • Warum dürfen mündige Bürger, die nachweislich eine Infektion gut überstanden haben, nicht selbst entscheiden, ob sie diesen Vorgang wiederholen wollen?

Um die schweren Erkrankungen zu verhindern ist die Lösung einzig und allein und ausschließlich nur die allgemeine Impfpflicht.

  • Nein, die Lösung ist einzig und allein und ausschließlich nur eine allgemeine Versorgung mit dem neuen Medikament „Paxlovid“, das 90% der schweren Fälle erfolgreich verhindert.

Aber eine allgemeine Impfpflicht verhindert schwere Fälle von vornherein noch erfolgreicher.

  • Schau mal in die Statistik; 65% der Coronatoten in Deutschland sind über 80 Jahre, und weitere 20% über 70 Jahre alt. Wenn überhaupt, sollte eine Impfpflicht ausschließlich auf die Altersgruppe der über 67-jährigen beschränkt werden.

Eine Beschränkung der Impflicht auf diese Gruppe ist doch klar als Altersdiskriminierung anzusehen.

  • Ha, was für ein tolles Argument! Das Aufsetzen eines Sturzhelmes beim Fahrradfahren ist gegenüber den anderen Körperteilen doch auch nicht kopfdiskriminierend.

Lieber Jupp, lass es gut sein. Diesen Disput können wir ja noch endlos weiterführen. Ich nehme an, dass die Gründe für eine Verweigerung der Impfung viel komplexer sein können, als es auf dem ersten Blick aussieht. Angst von Nebenwirkungen, Misstrauen gegenüber den Obrigkeiten, Widerstand gegen Zwangsmaßnahmen, Verwirrung durch Uneinigkeit von Regierenden und Fachleuten, oder einfach nur Uninformiertheit. Es ist wahrlich keine Lösung, ein ganzes Viertel der deutschen Bevölkerung in die Nähe von Rechtsradikalen und Chaoten zur drängen. Wir sollten auf jeden Fall eine Spaltung der Gesellschaft durch Kommunikationsverweigerung vermeiden. Wir sehen ja konkret die aktuellen Auswirkungen in den Vereinigten Staaten.

  • Das ist natürlich auch meine Meinung, mein lieber Ingo. Wenn wir auch oft unterschiedliche Ansichten haben, so reden wir doch miteinander und trinken anschließend ein kühles Bier.

So soll es wieder sein, lieber Jupp. Das Leben ist zu kurz, als dass wir es mit Streitereien vergeuden sollten. Prost, auf den freundschaftlichen Disput.

(Anmerkung des Chronisten: das obige fiktive Streitgespräch über die Impfung wurde in Teilen dem ausgezeichneten Kabarettletter Januar 2021 von H.G.Butzko (www.hgbutzko.de) entnommen.)

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Freiheit beginnt im Kopf: Wir müssen die Pandemie hinter uns lassen
Der Tag, an dem Corona nur eine normale Infektion der Atemwege ist, rückt näher. Noch dreht sich alles um die Pandemie. Doch am Ende ist Covid eine Krankheit unter vielen. Es gilt, die Risiken vernünftig abzuwägen.
Corona am Morgen, Corona am Mittag und am Abend. Das Thema kann niemand mehr hören, und doch kommt die Politik nicht so einfach davon los. Die immergleichen Stichworte werden wiederholt: der Kollaps des Gesundheitswesens, die Überlastung der kritischen Infrastruktur, auch die Impfpflicht darf nicht fehlen. Es fühlt sich an wie eine einzige, nervtötende Endlosschleife.
Zugleich hat sich die Gesellschaft mit den Einschränkungen arrangiert. Der Mensch ist nun einmal ein Gewohnheitstier. Irgendwann wirkt das Unvorstellbare normal, selbst die Pandemie wird zur Routine. Es braucht daher eine bewusste Anstrengung, bis sich wieder ein Denken durchsetzt, das nicht vom Ausnahmezustand bestimmt wird. Freiheit beginnt im Kopf.

(Eric Gujer, Neue Zürcher Zeitung vom 21.01.2022)

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von Ingo Nöhr

Über Truthähne, schwarze Schwäne und unerwartete Überraschungen

Ingo Nöhr zum 1. Januar 2022

Über Truthähne, schwarze Schwäne und unerwartete Überraschungen

Zum zehnten Mal beginnen die beiden Pensionäre Jupp und Ingo ein neues Jahr mit einem kritischen Gespräch am traditionellen Stammtisch. Die Welt hat sich seither drastisch gewandelt und mit ihr auch die beiden Diskutanten. Ingos optimistische Sichtweise wird vom skeptischen Jupp stark auf die Probe gestellt, besonders in der vierten Pandemie-Welle und den apokalyptischen Meldungen zur neuen Omikron-Variante. Aber Ingo lässt sich in seiner Zuversicht auf eine bessere Welt nicht beirren, gemäß dem Motto von Victor Hugo: „Die Zukunft hat viele Namen: für Schwache ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte, für die Mutigen die Chance.“

Guten Morgen, Jupp, alles Gute in 2022. Ich nehme an, du hast dein Katastrophenjahr mit einem lauten Fluch abgeschlossen. Daher wünsche ich dir einen optimistischeren Einstieg ins neue Jahr.

  • Hallo Ingo, dankeschön. Ich wünsche dir auch ein weiteres Jahr mit deinem Glauben an das Gute im Menschen und deiner unverbesserlichen Zuversicht an die Vernunft der menschlichen Rasse.

Vielen Dank Jupp, ich werde das weiterhin beherzigen. Du siehst aber reichlich verkatert aus. Hast du die Silvesternacht zu lang durchgefeiert?

  • Nein, das kann ich nicht gerade sagen. Ich hatte mich schon auf eine ruhige Mitternacht gefreut, nachdem alle Böller und Raketen ja verboten waren. Aber hat unser Gesetzgeber hat in seiner unergründlichen Weisheit den Verkauf von Signalmunition aus der Regelung herausgenommen. Unser hiesiger Waffenladen hat ganz legal riesige Bestände verkauft, die in meiner Nachbarschaft während der gesamten Nachtstunden abgefeuert wurden.

Du hast mein Mitgefühl, Jupp. Dein neues Jahr startete also mit einem großen Knallkonzert wie unser verflossenes Jahr. Über beeindruckende Knalleffekte können wir uns nicht gerade beklagen.

  • Wie im letzten Jahr? Das verstehe ich nicht ganz, Ingo. Soweit ich mich erinnern kann, waren Böller und Raketen auch letztes Jahr verboten und wir haben uns vielmehr Gedanken zur Stille gemacht.

Mit dem Knalleffekt meine ich den misslungenen Putschversuch von Donald Trump-Fans am 6. Januar auf das Kapitol. Zwei Wochen später wurde Joe Biden als neuer Präsident vereidigt. Aber wie ich höre, hat Trump in drei Jahren schon wieder reelle Chancen auf eine Wiederwahl. Zumindest besetzt er jetzt schon alle wichtigen Wahlämter mit seinen Gefolgsleuten. Und seine Republikaner stehen stramm hinter ihm. Die Russen und Chinesen wird diese Aussicht freuen.

  • Ja richtig, Ingo. Und der große Knalleffekt in der Natur kam dann Mitte Juli, als eine Flutwelle das Ahrtal zerstörte und 180 Menschen getötet wurden. Ende Juni war doch die große Hitzewelle in Nordamerika mit Rekordwerten von 49,6 Grad Celsius. Im Juli hatten wir die riesigen Waldbrände in Kalifornien und sogar bei uns in Südeuropa und der Türkei. September: der Vulkanausbruch auf der kanarischen Insel La Palma! Dezember: die schwersten Tornados in den Vereinigten Staaten. Da hat die Natur dem Menschen mal konkret gezeigt, wo der Hammer hängt.

Jupp, und warum? Diese Ereignisse sind wunderbare Beispiele für den Truthahn von Nassim Taleb, über den wir im Mai 2020 gesprochen haben. Erinnerst du dich noch?

  • Nassim Taleb? Sagt mir nichts. Da haben wir über einen schwarzen Schwan gesprochen, an den Truthahn kann ich mich nicht erinnern.

Also Jupp, du musst auch schon die Zitate am Ende unserer Aufzeichnungen lesen. Der Truthahn von Taleb war fast das ganze Jahr davon überzeugt, dass er das beste Leben auf der Welt führt, denn er wurde jeden Tag großzügig gefüttert und verhätschelt. Bis plötzlich am Thanksgiving Day brutal sein Luxusleben endete, weil er geschlachtet wurde.

  • Aha, jetzt verstehe ich. Du meinst, wir waren auch zu lange der Überzeugung, dass die Natur uns alle Annehmlichkeiten zur kostenlosen Verwertung bereitstellt, bis zu uns unerwartet alles in Rechnung stellt. So auch in Afghanistan, wo wir zwanzig Jahre lang naiv geglaubt haben, wir könnten mit viel Geld das Land modernisieren und die Demokratie einführen. Und dann übernehmen plötzlich im August die Taliban ohne irgendeine Gegenwehr die Regierung.

Gut verstanden, Jupp. Aber warum soweit in die Ferne schweifen? Wir haben es bei der Bundeswahl doch selbst gespürt. Nach sechzehn Jahren Angela Merkel sitzt plötzlich Olaf Scholz und Annalena Baerbock im Kanzleramt und die CDU findet sich seit Menschengedenken total perplex auf den Oppositionsbänken wieder – und dann noch in direkter Nachbarschaft zur AFD. Das dürfte für sie ein ähnliches Gefühl sein, wie der Truthahn in seinen letzten Sekunden erlebt hat.

  • So ein Truthahn-Erlebnis dürften die Briten nun ein Jahr nach dem vollendeten Brexit erleben. Was hatte ihnen Boris Johnson doch für eine himmlische Zukunft in Freiheit versprochen. Dumm nur, dass sie mit dem EU-Austritt auch 150.000 Arbeitskräfte verloren haben, die ihre Wirtschaft am Leben erhalten hatten.

Truthähne überall, Jupp. Jahrzehntelang hat die Politik den Pflegenotstand ignoriert. Dann sorgte Corona mit vollen Betten auf der Intensivstation. Alle haben für die Intensivpfleger geklatscht, es gab ein kleines Bußgeld in Form einer einmaligen Prämie. Das sind alles Idealisten, die dürfen jeden Tag Leben retten, das sollte ausreichend motivieren, dachte man sich im Gesundheitsministerium. Jetzt ist die Luft raus, nach anderthalb Jahren im Notbetrieb ist das Personal völlig ausgebrannt. 5000 Intensivbetten können wegen Personalmangel nicht belegt werden. Und zum Erstaunen der übrigen Welt müssen wir nun schwerstkranke Patienten per Flugzeug in andere Bundesländer evakuieren. Wer zu spät kommt …

  • Ich sehe schon Ingo, überall lauern die vollgefressenen Truthähne: in unserer Verwaltung und Justiz, die die Digitalisierung verschlafen haben. Bei den Auto-Herstellern, die anfangs Elon Musk verlachten. Bei unserem Gesetzgeber und den Finanzverwaltungen, die in den letzten Generationen eine nicht mehr beherrschbare Regelflut produziert haben. 2003 hatte der frischgebackene CDU-Vorsitzende Friedrich Merz eine Steuererklärung auf einem Bierdeckel versprochen. Wäre doch schön, wenn unser neuer Finanzminister Lindner diese Idee mal aufgreifen würde.

Das wäre schon das Erscheinen eines schwarzen Schwans: „die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“. Das beschreibt unser Nassim Taleb in seinem Bestseller. Wir unterschätzen permanent die extremen Einflüsse von überraschenden Wendungen. Taleb führt diesen Mangel auf drei Missverständnisse zurück:  die Illusion, gegenwärtige Ereignisse zu verstehen, die retrospektive Verzerrung historischen Geschehens und die Überbewertung von Sachinformation kombiniert mit der Überbewertung der intellektuellen Eliten.

  • Hört sich ja interessant an, Ingo. Aber erklär mir erst mal, was das mit einem schwarzen Schwan zu tun hat.

Ganz einfach: bis ins 18. Jahrhundert waren alle bekannten Schwäne weiß. Man konnte sich einfach keine andere Farbe für einen Schwan vorstellen. Dann aber entdeckte ein gewisser John Latham 1790 in Westaustralien einen Trauerschwan. Er war vollkommen schwarz. Und eindeutig der Gattung Schwäne zugehörig. Heute spricht man von schwarzen Schwänen, wenn sämtliche bekannten Faktoren keinen Rückschluss auf ein zukünftiges Risiko zulassen und den Akteuren nicht bewusst ist, dass es Unerwartetes geben könnte. Als sich im März bei starkem Wind das Containerschiff im Suezkanal plötzlich quer stellte und sechs Tage lang den gesamten Kanal für 370 Schiffe blockierte. Der tägliche Transportausfall von wichtigen Ladungsgütern im Wert von 9 Milliarden US-Dollar ließ viele weltweite Lieferketten zusammenbrechen, Halbleiter und viele Rohstoffe wurden knapp.

  • Ja, da waren wir alle ganz baff. Plötzlich konnte Amazon vieles nicht liefern, weil seine Pakete im Kanal festhingen. Demnach waren viele Finanzkrisen wohl auf schwarze Schwäne zurückzuführen: die Auswirkungen der Lehman-Brothers Pleite, die Bankenkrise mit den faulen Krediten, die Verschiebung der Olympiade durch die Corona-Pandemie, die Spiele in den leeren Stadien. Nur die vierte Pandemie-Welle nicht, die wurde schließlich monatelang vorher angekündigt.

Und die Flüchtlingskrise zählt auch nicht dazu. Kriege vor unserer Haustür und umwälzende Klimaveränderungen kamen schließlich nicht über Nacht. Wir werden noch mehr Völkerwanderungen in unser europäisches Paradies erleben. Allein letztes Jahr hat die Weltbevölkerung trotz der globalen Pandemie mit 5,5 Millionen Toten um fast 100 Millionen Menschen zugenommen. Alle wollen essen, trinken, wohnen und vom großen Kuchen der Reichen naschen. Erschwerend kommt hinzu: 3,6 Milliarden Benutzer von Smartphones erhalten täglich Meldungen über unseren Wohlstand.

  • Ingo, leider oft über Facebook. Die ehemalige Facebook-Managerin Frances Haugen hat vor kurzem im amerikanischen Kongress über deren asoziales Business-Modell berichtet: von Algorithmen bevorzugte Triggerpunkte wie Hass, Wut und extreme Ansichten fördern enorm die Reichweite und damit den Profit von Mark Zuckerberg. Diese Fütterung von Filterblasen und Echokammern verstärkt die Radikalität von Republikanern, Verschwörungstheoretikern, Impfverweigerern und Rechtsextremen. Und der Staat scheint machtlos zuzuschauen: Too big to fail. Geld regiert die Welt. Allein in den G20-Ländern pumpten die Notenbanken 2020 knapp 9000 Milliarden Dollar in den Wirtschaftskreislauf. Die weltweite Staatsverschuldung erreicht mittlerweile 226 Billionen US-Dollar. Gedrucktes Papier, getragen von Hoffnung und Glauben.

Apropos Facebook: Mark Zuckerberg hat gerade seinen Konzern umbenannt: Facebook, Instagram, Whatsapp und Oculus VR sind nun bei Meta Platforms Inc. untergekommen.  Und er hat große Visionen: das Metaverse, der dreidimensionale Nachfolger des Internets. Bisher war der Internetnutzer nur Zuschauer und konnte Texte, Fotos und Videos austauschen. Bald soll er Mitbewohner eines virtuellen Universums werden: aus dem Home-Office wandert er als Avatar zur täglichen Arbeit zu seinen Kollegen in einen virtuellen Konferenzraum und kann dort mit Partnern und Kunden in aller Welt kommunizieren.

  • Ich spinne es mal weiter, Ingo: Kinder haben in ihrer virtuellen Schulklasse automatisch Zugang zu allen Freunden, aber auch Bildern, Karten, Texten und Filmen der Menschheit. Konzerte müssen nicht mehr persönlich besucht werden, sondern man sitzt auf dem Sofa mithilfe einer VR-Brille mittendrin. Sich mühselig eine passende Lebenspartnerin zu suchen, würde auch überflüssig. Vielmehr sucht man sich im Katalog eine knackige Avatarin aus, schlüpft in einen Sexanzug und durchlebt heiße Dates in der Virtual Reality.

Ich bezweifele, ob man künftig noch so einen Sexanzug benötigt. Schließlich hat einen Tag vor Heiligabend ein australischer ALS-Patient den weltweit ersten Tweet abgesetzt, der ausschließlich mit Hilfe seines Gehirns über eine neuartige Hirn-Computer-Schnittstelle verfasst worden war: „Ich brauche keine Tastenanschläge oder Spracheingabe. Ich habe diesen Tweet nur mit meinen Gedanken verfasst.“ Was sagst du dazu?

  • Und das findest du gut, Ingo? Da vereinsamen die Menschen ja noch mehr als in den Lockdowns der Corona-Pandemie. Ernest Hemingway sagte einmal: „Das Merkwürdige an der Zukunft ist die Vorstellung, dass man unsere Zeit einmal die gute alte Zeit nennen wird.“ Hast du noch mehr dieser Horrorvorstellungen von unserer Zukunft?

Ach Jupp, die Aufzählung würde unser heutiges Treffen sprengen und dich nur noch tiefer in die Depression stürzen. Wir dürfen aber nicht die Augen vor der neuen Welt verschließen. Schließlich geht es um sehr viel Geld. Das Metaverse soll in absehbarer Zeit 10 bis 20 Prozent der Weltwirtschaft ausmachen. Jeff Bezos hat mit der Gründung von Amazon 1994 gezeigt, wohin eine Vision führen kann.

  • Ja und? Was können wir noch dagegen tun? Wie du schon sagtest: too big to fail. Wo bleibt da deine optimistische Seite, Ingo?

Gemach, mein Lieber Jupp. Das Metaverse erinnert mich an Platons Höhlengleichnis. Eine Gruppe von Menschen sind in einer Höhle angekettet. Sie betrachten Schatten an der Wand und glauben, dass diese die einzige Realität sei. In unserer Gesellschaft gibt es immer noch genügend Leute, die nach draußen gehen und sich der echten Wirklichkeit stellen wollen. Erinnere dich an die überwältigende Hilfsbereitschaft wildfremder Mitbürger, als eine Million Flüchtlinge in Deutschland eintrafen; als die Flutkatastrophe über das Ahrtal hereinbrach. An die übergroße Mehrheit von ehrenamtlichen Helfern, Impfwilligen, Nichtrassisten, Umweltbewussten in unserer Bevölkerung. Sie befolgen den platonischen Ratschlag: „Die Suche nach dem Guten in unseren Mitmenschen wird uns dabei helfen, das Gute in uns selbst zu finden.“

  • Okay, du meinst also, wir sollten uns nicht verrückt machen lassen. Weniger Fernsehen gucken, Zeitungen lesen, Internet surfen, die Realität mit eigenen Augen in der Welt erleben. Und uns mit den Guten zusammentun und gemeinsam den digitalen Verlockungen widerstehen. So wie wir das nun schon im zehnten Jahr mit unserem Stammtisch praktizieren. Wahrscheinlich ein hilfreicher Vorschlag. Dann lass uns mit einem nichtdigitalen Bier anstoßen, Ingo.

Ich sehe, Jupp, du hast nun erkannt, woher ich meinen Optimismus beziehe. Auf die alternative Zukunft. Prost neues Jahr.

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Seneca war der Meinung, der kluge Stoiker solle sein Engagement für das öffentliche Wohl einstellen, wenn man nicht auf ihn hört und das Staatswesen unwiderruflich korrumpiert ist. Es zeugt von größerer Weisheit zuzuwarten, bis es sich selbst zerstört.
(aus Nassim Taleb: Kleines Handbuch für den Umgang mit Unwissen.)

Die Menschen gehen lieber zugrunde, als dass sie ihre Gewohnheiten ändern.“
(Leo Tolstoi)

Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.
(Mahatma Gandhi)

„Man sollte nie daran zweifeln, dass eine kleine Gruppe kluger, engagierter Bürger die Welt verändern kann. In der Tat ist das der einzige Weg, der jemals Erfolg hatte.“
(Margaret Mead)

Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.“
(Antoine de Saint-Exupery)

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