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INGOs NÖHRgeleien 2024

von Ingo Nöhr

Corona-Show im Olympia-Stadion

Ingo Nöhr zum 1. April 2024

Ingo Nöhr und sein Kumpel Jupp haben wir ein neues Aufregungsthema. Vor zwölf Tagen veröffentlichte das Multipolar-Magazin über 200 Protokolle mit über 2000 Seiten über die RKI-Sitzungen des Covid-19-Krisenstabes zwischen Januar 2020 bis April 2021, nachdem die Redakteure im Mai 2021 beim Verwaltungsgericht einen Antrag auf Freigabe aller Dokumente gestellt hatten. Seitdem überschlagen sich die Medien: „Politischer Sprengstoff“ titelt die Bild-Zeitung, „von den brisanten Corona-Protokollen des RKI“ spricht das ZDF heute. Irritierend sind aber die über 1000 Schwärzungen im Text, die laut den RKI-Anwälten einzeln auf 1059 Seiten begründet werden.

(Kleiner Hinweis vom Chronisten: bei einigen Aussagen bitte das obige Datum beachten!)

Mensch Ingo, wie hast du das wieder geschafft? Da reden wir uns letzten Monat über die Corona-Bücher von Prof. Günter Kampf die Köpfe heiß und heute sind die vertraulichen RKI-Dokumente aufregender Gesprächsstoff in Politik und Gesellschaft.

  • Langsam, lieber Jupp, ich habe gar nichts gemacht. Wenn, dann ist dieser Aufruhr von unserem Chronisten ausgelöst worden, der immer alle Gespräche gleich im Internet veröffentlicht. Außerdem sind ja ein Großteil der RKI-Informationen geschwärzt. Bei unserem Professor gab es dagegen nur Klartext.

Ja, aber wohl nicht lange. Vor drei Tagen verkündete Karl Lauterbach persönlich, dass die Schwärzungen auf seine Anweisung hin entfernt werden sollen. Vermutlich will er damit einem Gerichtsurteil zuvorkommen, welches am 6. Mai über die Rechtfertigung der Zensuren entscheiden wird. Er hat ja auch wenig zu befürchten, weil sein Vorgänger Jens Spahn für diesen Zeitraum verantwortlich war. Gerüchte besagen, dass er die geheimen Textstellen am 1. April persönlich im Olympiastadion vorlesen will.

  • Soso, dann fahr mal mit Olek hin, Jupp und lasst euch nichts entgehen. Wie ich höre, gibt es große Showveranstaltung, so wie die „drei Tenöre“: Karl Lauterbach, Lothar Wieler und Christian Drosten im Trio. Jens Spahn kommt dann als Ehrengast und darf beim Finale vom Publikum mit faulen Eiern beworfen werden. Das Event dürfte die Politikverdrossenheit etwas senken.

Ich werde dir berichten, Ingo. Aber eigentlich müssten da noch viel mehr Akteure aus Corona-Zeiten auftreten. Alena Buyx, die Vorsitzende des Ethikrates, sieht in ihrem Wirken eigentlich viel Positives: „Wir haben einen Schub von fünf bis zehn Jahren gemacht“ erzählte sie vor vier Tagen im Spiegel-Interview. „Die Impfung war eine großartige Menschheitsleistung“. Sie meint auch den Digitalisierungssprung.

  • Natürlich, Digitalisierung. Immerhin haben wir schnell gemerkt, das Faxgeräte noch nicht digital laufen. Und was sagt sie dazu, dass so viele Kinder und Jugendliche in seelische Nöte geraten sind, an denen sie heute noch leiden? Zu den einsam Sterbenden in Altersheimen und auf Intensivstationen?

Jaaa, die Kinder. Das tut ihr fürchterlich leid. Da hätte der Ethikbeirat eigentlich früher eine Stellungnahme schreiben müssen. Aber zur Wiedergutmachung will die Buyx nun in einem Berliner Kindergarten persönlich die Ostereier verstecken, und zwar als Häsin verkleidet. Deswegen kann sie auch nicht zur Corona-Show ins Stadion kommen.

  • Jens Spahn sollte eigentlich während der gesamten Veranstaltung zur Sühne eine FFP2-Maske tragen müssen. Schließlich hat der Bundesrechnungshof letzte Woche eine gigantische Verschwendung an Steuergeldern festgestellt: von den 5,7 Milliarden Masken wurden nur 2 Milliarden ausgegeben, der Rest wird nun vernichtet. Dabei dokumentiert das RKI in seinem Protokoll vom 30. Oktober 2010: FFP2-Masken sind eine Maßnahme des Arbeitsschutzes, haben bei nicht korrekter Benutzung keinen Mehrwert, und es gibt keine Evidenz für FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes. Selbst Risikogruppen kann man das Tragen der Masken auf Dauer nicht zumuten, nach 75 Minuten Tragedauer muss eine halbstündige Pause erfolgen. Laut Prof. Kampf hatten über 90% der Maskenträger ihre Maske nicht dicht abgeschlossen. Somit war eine Schutzwirkung in der Realität nicht nachweisbar.

Ingo: Just am Tag der bundesweiten Einführung der FFP2-Maskenpflicht am 18.Januar 2021 findet sich im RKI-Protokoll der Hinweis, dass überhaupt keine fachliche Grundlage zur Empfehlung von solchen FFP2-Masken für die Bevölkerung gibt und deswegen eine Warnung vor unerwünschten Nebenwirkungen hinzuzufügen sei. Durch die verstärkte CO2-Rückatmung steigt dessen Gehalt von 0,04% auf ca. 3%.

  • Jens Spahn sollte zwischendurch immer wieder mal Luft schnappen dürfen, bevor er umfällt und die Show kaputtmacht. Ich hätte auch einen Ratschlag für ihn, bevor seine 3,7 Milliarden Masken verbrannt werden. Er könnte sie doch an alle Haushalte als Kaffee- oder Teefilter verteilen. Und als Schmerzensgeld noch einen 10 Euro-Schein beilegen. Schließlich kostet im laufenden Jahr allein die Verwaltung der überzähligen Masken 534 Millionen Euro.

Zumindest die Pollenallergiker würden sich über kostenlose Masken freuen. Man müsste einfach per Dekret die Zweckbestimmung ändern. Die Industrie sollte überhaupt mal prüfen, ob der riesige Berg an Maskenstoffen nicht zur Eliminierung von Feinstaubproduktion geeignet ist. Für die Modeschöpfer wäre es doch auch eine kreative Herausforderung, aus zwei FFP2-Masken einen formschönen BH zu gestalten.   

  • Jupp, du hast gute Ideen. Schreibe es gleich an Lauterbach, dann hat er in Berlin wieder etwas positives zu verkünden. Es kommt noch eine brisante Notiz ans Licht: Im Protokoll vom 30.12.2020 heißt es: „Maskenpflicht ist nach Impfung definitiv beizubehalten, da weiterhin Übertragungsrisiko.“ Also wusste das RKI schon vorher, dass eine sterile Immunität nach der Impfung gar nicht bewiesen ist. Dies hielt Markus Söder nicht davon ab, im August 2021 zu verkünden: „Wer geimpft ist, stellt keine Gefahr dar“. Und noch drastischer: „Ungeimpfte sind nicht Teil der Mitte der Gesellschaft“ erklärte Wolfram Henn, Mitglied des Deutschen Ethikrates. Damit war die Spaltung der deutschen Gesellschaft nicht mehr weit.

In seinem Buch „2G“ befasst sich Günter Kampf auch mit der Frage, ob die massive Ausgrenzung der Nichtgeimpften überhaupt einen relevanten gesundheitlichen Nutzen hatte. Eine Auswertung von 181.072 Risikokontakten der Luca-App im Oktober 2021 findet folgende Hotspots: Clubs und Diskotheken 49,1%, Bars 23,2%, Restaurants 10,9%, Veranstaltungen 7,8%.

  • Moment mal, ich erinnere mich noch daran, dass die Kirchen geschlossen wurden, aber der Aufenthalt in Baumärkten erlaubt war. Das wäre doch die beste Gelegenheit gewesen, der CDU und CSU das C vor dem Namen wegzunehmen.

Aber alle anderen Orte wie Einzelhandel, Theater, Museen, Cafés, Kinos, Schwimmbäder und Sport liegen unter 1%. Wohlgemerkt: Es handelt sich immer um Geimpfte oder Genesene, die aufgrund ihrer Zertifikate keine Testergebnisse vorlegen mussten, aber trotzdem kräftig ihre Coronaviren verteilt haben.   

  • Kampf kommt nach der Auswertung der Fallstatistiken zum Fazit: „Deshalb halte ich es sogar für wahrscheinlich, dass 2G die Anzahl von SARS-CoV-2 Übertragungen im öffentlichen Raum deutlich erhöht hat“. Eben, weil die Ausscheider nicht mehr getestet wurden.

Da bin ich ja gespannt, was in den nächsten Wochen noch alles in den Schwärzungen verborgen ist. Eigentlich muss auch Olaf Scholz an der Corona-Show teilnehmen. Am 12. September 2021 sagte er „Also, erstens bin ich gegen eine Impfpflicht“, um am 7. Januar 2022 das Gegenteil zu behaupten: „Ich habe die ganze Zeit gesagt, dass ich für eine Impfpflicht bin und ich bleibe dabei.“

  • Das erstaunt mich nicht, schließlich ist er ein sehr vergesslicher Mensch. Jetzt geht es plötzlich rasant schnell. Wolfgang Kubicki von der FDP hat sich beim Kanzler über die teilweise geheime Stoppt-Covid-Studie 2023 des RKI beschwert: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind keine Bittsteller, sondern haben einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Informationen.“ Da hat sich Olaf Scholz wieder an das Grundgesetz erinnert und sofort die Veröffentlichung der Studie verfügt: Noch im März 2024! Da muss Lauterbach sich aber jetzt sputen und die Ostereiersuche erstmal ausfallen lassen.

Diese RKI-Studie über die Corona-Maßnahmen fiel eigentlich sehr positiv aus. Die Hygienekonzepte und Kontaktbeschränkungen hätten „eine deutliche Wirkung“ gezeigt: „Verschärfungen führten jeweils zu einer stärkeren Reduktion der Covid-19-Ausbreitung.“ Doch schon der grob zusammenfassende Abschlussbericht, den das Ministerium veröffentlicht hatte, war von Fachleuten kritisiert worden. Experten bemängelten untaugliche Modellrechnungen, falsche Vergleiche und voreilige Schlüsse. Immer wieder drängten Wissenschaftler darauf, das RKI solle die „Quellcodes“, also die Grundlagen ihrer Modellrechnungen, offenlegen. 

  • Da ist aber das RKI ganz schön unter Druck: Damals der Schwenk bei der Maskenempfehlung, der ominöse Mann in den RKI-Sitzungen, der auf ein Signal von der Regierung wartet, die Freigabe jetzt der ungeschwärzten Stellen in den Protokollen, demnächst vielleicht noch ein Gefälligkeitsgutachten für die Regierung … Weißt du, Jupp, dass genau vor dreißig Jahren der Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer das gewaltige Bundesgesundheitsamt einfach aufgelöst und vorher seinen Präsidenten fristlos gefeuert hat? Damals kam der Skandal mit den HIV-verseuchten Blutkonserven ans Licht. Das BGA war in dunklen Machenschaften mit der Industrie, dem DRK, den Behörden und Ärzten verstrickt. Aber damals war ein Skandal noch skandalös.

Ingo, dein Blutdruck steigt wieder. Wir brauchen jetzt unsere Medizin. Herr Wirt, bitte zwei Bier.

  • Jupp, du hast mal wieder Recht. Bier ist noch ungepanscht, virenfrei und behördlich nicht verboten. Prost.

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Der Chronist empfiehlt einen Blick in die Webseite https://www.corona-verstehen.de/ . Dort findet man die 78. Fortsetzung eines Living eBook von David Klemperer et al. Seit August 2020 wird dort auf nunmehr 400 Seiten mit über 770 Literaturstellen eine evidenzbasierte Sicht auf die Covid-19 Pandemie kostenfrei zusammengestellt.

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Der Soziologe Alexander Zinn äußerte sich als Geimpfter am 8. Januar 2022. Er schrieb: „Was wir dabei übersehen: „Wissenschaftsfeinde“ sind nicht diejenigen, die Zahlen, Studien und Maßnahmen hinterfragen, sondern diejenigen, die den offenen Diskurs darüber unterbinden wollen. Schuldzuweisung und Ausgrenzung mögen uns psychologisch entlasten. Die Corona-Krise, die inzwischen eher eine gesellschaftliche als eine gesundheitliche ist, werden wir damit nicht lösen.“

(Zitat aus „2G“ von Günter Kampf)

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von Ingo Nöhr

„Wir werden viel einander verzeihen müssen“

Ingo Nöhr März 2024:

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn schlug im April 2020 nachdenkliche Töne an: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Mit diesen Worten bat Spahn damals um Verständnis für seine politischen Entscheidungen in der Corona-Krise. Die beispiellosen Eingriffe des Staates in die Grundrechte der Deutschen waren historisch einmalig und haben eine tiefe Spaltung in der Bevölkerung erzeugt.

Bei unseren Klinikrentnern Ingo und Jupp gibt es anscheinend Neuigkeiten. Kein Wunder, dass beim diesmaligen Treffen am Stammtisch in der Eckkneipe das Thema Corona wieder eine Rolle spielt.

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Hallo Ingo, bei dir noch alles im Lot? Ich habe spannende Nachrichten von der Corona-Front.

  • Guten Morgen Jupp. Bei mir ist alles okay. Aber ich vergaß, du hast ja mit deinem Untermieter Oleks einen ausgefuchsten Experten über die Corona-Krise. Damals hast du schon im Dezember 2022 mit spannenden Neuigkeiten geglänzt. Danach habt ihr doch angefangen, euren Weltuntergangsbunker zu bauen. Nebenbei gefragt: Sind Oleks und seine Perle Doris denn jetzt mittlerweile geimpft?

Nein, natürlich nicht. Sie haben eine eiserne Kondition und ich habe mich auch nirgendwo angesteckt. Aber jetzt hör mal zu, Ingo. Kannst du dich an den Januar letzten Jahres erinnern? Der Präsident der Robert Koch-Instituts Lothar Wieler sprach sich am 25. Januar 2023 dafür aus, die Entscheidungen und Maßnahmen der Coronapandemie aufzuarbeiten. Es brauche hier eine saubere Analyse, um daraus für die Zukunft zu lernen.

  • Jupp, da hatten wir persönlich doch schon unsere öffentlichen Medien alle abgeschaltet, damit wir endlich unsere Ruhe vor den permanent schlechten Nachrichten hatten. Aber lass mich raten: das RKI hat jetzt nach einem Jahr eine knackige Analyse vorgelegt.

Das Robert-Koch-Institut? Vielleicht, ich weiß es nicht. Das RKI hat seit dem Jahre 2000 über 12.000 Publikationen verbreitet, darunter sicherlich haufenweise Corona-Studien. Aber die gründlichste und umfassendste Analyse über die Corona-Maßnahmen gibt es gerade im Buchhandel – aber interessanterweise nicht vom RKI.

  • Hätte mich auch gewundert, dass ein so riesiger Beamtenapparat mit einem etwas chaotischen Gesundheitsminister in so kurzer Zeit ein Ergebnis erwirtschaften könnte. Wer hat denn jetzt die ganze Chose analysiert?

Ein Professor Günter Kampf hat sich seit Beginn der Corona-Pandemie regelmäßig mit den Maßnahmen befasst und 2023 schon drei Bücher darüber geschrieben. Eine wahre Fleißarbeit, nämlich insgesamt 500 Seiten: über die Maskenpflicht, über die Impflicht, über die G2-Regelungen und jetzt im Januar 2024 mit CoroFluenza ein neues Buch mit einem Vergleich von weltweiten pandemischen Atemwegsinfektionen. Ein gewaltiges Werk mit 233 Quellenangaben und knapp 150 Seiten.

  • Kampf? Jupp, das hört sich wie ein Pseudonym an. Fürchtet der Professor jetzt um sein Leben? Was ist denn herausgekommen? Nichts schlimmes als Auftragsarbeit vom Gesundheitsminister denke ich? Da tippe ich mal ins Blaue: die Politiker haben gezeigt, dass sie mit ihren drastischen Maßnahmen unser aller Leben gerettet haben.

Mensch Ingo, ganz falsch. Der Name ist kein Pseudonym. Prof. Kampf ist ein selbstständiger Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin in Hamburg sowie außerplanmäßiger Professor für Hygiene und Umweltmedizin an der Universität Greifswald. Er hat mehr als 250 wissenschaftliche Veröffentlichungen in meist internationalen Fachzeitschriften, 44 Buchkapitel sowie zwölf Fachbücher veröffentlicht. Und es ist auch keine Auftragsarbeit vom BMG

  • Da wäre natürlich etwas aufwändig, alles in einem Pseudonym unterzubringen zu wollen. Aber ich gehe mal davon aus, dass die Uni Greifswald als Empfänger von staatlichen Forschungsgeldern Wert darauflegt, nachzuweisen, dass der Staat in Coronazeiten alles richtig gemacht hat.

Das könnte man annehmen, Ingo. Aber dann hätte man unseren Professor schon 2022 mundtot gemacht, als er sein Buch mit dem provokanten Titel „Wissenschaft ist frei – auch in der Pandemie?“ herausgebracht hat. Ich zitiere mal Revolutionäres aus dem Klappentext: „Es steht nicht gut um die Freiheit der Wissenschaft. Ihre Unabhängigkeit, finanziert durch den Staat, ist normalerweise ein großer Vorteil, solange der Staat kein eigenes Interesse am Ergebnis hat. Doch in der COVID-19-Pandemie scheint das bei einzelnen Fragestellungen nicht mehr zu gelten. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Masken wurden aus fadenscheinigen Gründen abgewertet oder zurückgezogen. Politiker üben offenen Druck auf Wissenschaftler aus, wenn diese nicht den Kurs der Regierenden unterstützen.“

  • Das ist ja bemerkenswert, Jupp. Das ist genau auf dem Punkt gebracht, was ich befürchtet hatte. Und diese Revolte hat er wissenschaftlich und politisch überlebt?

Ja, hör mal zu. Er ging damals sogar einen heiligen Wissenschaftstempel an: „Die Leopoldina beschreibt ein Dokument als Wissenschaft, was in keiner Weise den Ansprüchen an evidenzbasierte Empfehlungen entspricht. Die Wissenschaft sollte öffentlich Distanz zu staatlichen Autoritäten wahren, kontroverse Debatten einfordern und politische Entscheidungen und ihre Begründungen fortwährend kritisch und ergebnisoffen auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen hinterfragen.

  • Ich erinnere mich noch daran: im Dezember 2020 berief sich Angela Merkel auf ein Leopoldina-Papier, welches von den Experten und als Titel der WELT qualitätsmäßig als wissenschaftliches Desaster deklariert wurde. Nun denn, jetzt bin ich aber sehr interessiert, mehr darüber zu erfahren. Wie bist du denn überhaupt darauf gekommen?

Das war ganz schön dramatisch. Kürzlich tauchte Oleks bei mir auf und knallte mir wütend das Kampf-Buch über CoroFluenca auf den Schreibtisch. Er verlangte als Impfverweigerer sofortige und öffentliche Rehabilitation und vor allem Wiedergutmachung für all die Beleidigungen und Bestrafungen, die er als Impfverweigerer erdulden musste. Schließlich musste er sich vom Ex-Bundespräsidenten Joachim Gauck als „Bekloppter“, vom FDP-Politiker Rainer Stinner als „gefährlicher Sozialschädling“ und vom zweifachen Oskar-Preisträger Christopf Waltz als „asozialer Vollidiot“ beschimpfen lassen.

  • Klar, Jupp, das war damals eine unglaubliche Hysterie in den Medien und bei den Politikern, welche fast die gesamte Bevölkerung angesteckt hat. Bis eben auf die Impfverweigerer, die gleich mit dem Schlagwort Querdenker ins Abseits gestellt wurden. Dabei war vorher der Begriff des Querdenkens eine durchaus positiv besetzte Einstellung, die durch das Hinterfragen verkrusteter Strukturen eminent wichtig für die gesunde Entwicklung einer Gesellschaft ist. Die Frage ist doch, was ist denn jetzt so anders gewesen, dass wir so hysterisch reagiert haben? Es war ja nicht die erste Pandemie, die die Menschheit erlebt hat.

Nein beileibe nicht, Ingo. Schwere Grippewellen sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufgetreten. Sie führten manchmal für kurze Zeit zu lokalen Engpässen der Krankenversorgung, so dass einzelne Patienten in umliegende Krankenhäuser verlegt werden mussten. Aber noch nie hat eine schwere Grippewelle dazu geführt, dass es Lockdowns gab, dass Heimbewohner monatelang keinen Besuch von ihren Angehörigen bekommen durften oder gar allein sterben mussten, dass in Bussen FFP2-Masken getragen werden mussten, dass Schwangere nach der Geburt von ihrem Neugeborenen isoliert wurden, dass es nächtliche Ausgangssperren gab, dass Schulen und Universitäten geschlossen wurden, dass ein ganzes Hochhaus wie in Göttingen für sieben Tage mit einem Bauzaun abgeriegelt wurde oder dass bei privaten Zusammenkünften staatlich vorgeschrieben wurde, wie viele Personen aus wie vielen Haushalten sich treffen durften. Insbesondere der Umgang mit Leidenden und Sterbenden war im Jahr 2020 ein Tabubruch.

  • Ja, das war eine unglaubliche Zeit, aber das ist doch nichts Neues, Jupp und das kennen wir doch längst aus eigener Erfahrung. Worüber hat sich dein Oleks denn jetzt so fürchterlich aufgeregt?

Ganz einfach: über die statistischen Ergebnisse der Analysen. Das Fazit von Kampfs Analyse lautet: „Die Hospitalisierungsrate von COVID-19-Fällen ist nicht grundsätzlich höher als bei saisonalen Coronavirus-Infektionen, sondern sogar deutlich niedriger als bei den Grippevirus-Infektionen in Deutschland“ und der „Anteil der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist nicht durchgängig höher als bei saisonalen Coronavirus- oder verschiedenen Influenzavirus-Infektionen.“

  • Das sind aber gewaltige Ohrfeigen für unsere politische Führung. Und das hat der Herr Professor alles statistisch sauber belegt?

Ingo: Da wirst du von dem vorliegenden Material regelrecht erschlagen. Er hat jeden einzelnen Aspekt penibel beleuchtet. Und oft sind das keine neuen Erkenntnisse. Oleks regt sich vor allem über die schon im März 2020 längst vorliegenden Ergebnisse der Wissenschaft auf, die von den Verantwortlichen einfach ignoriert wurden. Eine Autorengruppe aus Frankreich deutete im Mai 2020 darauf hin, dass die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber SARS-CoV-2 möglicherweise übertrieben war. Bereits im Sommer 2020 hätte man eine vergleichende Bilanz zwischen den verschiedenen viralen Atemwegsinfektionen ziehen können. Die Daten lagen also frühzeitig vor. Auf dieser Grundlage hätte man die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 neu bewerten, besondere Risikogruppen identifizieren, ein fundiertes Indikatoren-Set zur Erfassung medizinisch relevanter Fälle entwickeln und damit wesentlich gezielter intervenieren können. Nichts davon ist geschehen.

  • Jupp, jetzt verstehe ich auch die Aussage von Gesundheitsminister Spahn: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Erinnerst du dich noch an unserem Stammtisch vom März 2020? Unser Motto lautete „Don’t Panic“. Und im Monat darauf fragten wir uns: „Hätten wir ohne Kenntnis des Virus die Corona-Pandemie im Tagesgeschäft des Todes vielleicht garnicht bemerkt?“ Nebenbei bemerkt: ist doch hilfreich, dass unser Chronist unsere Stammtischgespräche jeden Monat penibel aufgezeichnet hat, oder?

Ja Ingo, wir waren damals erstaunlich abgeklärt und haben uns angesichts der alternativen Todesraten nicht verrückt machen lassen. Oleks hat mir dann noch ein Zitat von dem juristischen Prof. Uwe Volkmann von der Universität Frankfurt um die Ohren gehauen: „Auch bei den bisherigen Epidemien von der Schweinegrippe bis zur normalen Influenza hätten wir durch Einreisesperren, Verbot von Großveranstaltungen oder zuletzt auch Isolierungen der Menschen voneinander die Todesrate von vornherein erheblich senken können. Aber wir haben es nicht getan, weil uns diese Einschränkungen zu schwerwiegend erschienen und alle Erkrankten in den Krankenhäusern behandelt werden konnten.
Und ganz generell könnte irgendwann der Punkt kommen, an dem wir uns eingestehen müssen, dass es Krankheiten gibt, die wir nicht besiegen können, ebenso wenig wie wir den Tod besiegen können. Wir können uns, wie jetzt, eine Zeitlang dagegen anstemmen, am Ende aber eben doch immer nur eine Zeitlang. So oder so werden wir irgendwann wieder lernen müssen, die Welt nicht nur durch die Brille der Virologen zu betrachten.“

  • Ich erinnere mich, dass schon frühzeitig bemängelt wurde, dass fast immer nur Virologen zu Wort kamen und kaum die Epidemiologen, die eine viel abgeklärtere Sicht auch Pandemien haben. Ganz zu schweigen von den Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Pädagogen und Kinderärzten, die angesichts der brutalen Corona-Maßnahmen laufend Warnungen vor den Konsequenzen für die Kinder und Erwachsenen aussprachen.

Also, Ingo, das hätte in den Medien wohl die lukrative Dramatik geschmälert. Vergiss nicht die permanente Jagd nach den Quotenbringern. Leider auch bei unserem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.  Der persönliche Eindruck von Prof. Kampf war schon zu Beginn der Pandemie, dass große Teile der etablierten Medien, der Politik und auch Teile der Wissenschaft in ungewöhnlich großer Sorge oder sogar Angst waren. Die Medien erzielten mit Talkshows gute Einschaltquoten, die Politiker hatten eine Bühne für öffentliche Aufmerksamkeit, und die Wissenschaftler waren gefragt wie nie zuvor. Und doch stellt sich im Nachhinein heraus, dass von politischer Seite, wie in Großbritannien, die Angst in der Bevölkerung teilweise ganz bewusst hochgehalten werden sollte

  • Nun mal Jupp, Butter bei de Fische: was ist nun das letztendliche Resultat seiner Analysen?

Er beschreibt es etwas diplomatisch, aber eindeutig: „Es ist fraglich, ob durch die massiven und grundrechtseinschränkenden Maßnahmen tatsächlich der gewünschte Effekt auf die Kenngrößen der COVID-19-Pandemie erreicht werden konnte. Eine umfassende Auswertung von 2G ergab keinen relevanten Nutzen des Ausschlusses ungeimpfter Personen von weiten Teilen des öffentlichen Lebens. Das gleiche Ergebnis ergab eine umfangreiche Auswertung öffentlicher Daten und Studien zur Masken- und Impfpflicht.“

  • Ganz klar eine gewaltige Blamage für unser Pandemie-Management. Wo bleiben denn jetzt die Schlagzeilen in der Presse, die Interviews und Talkshows bei den Sendern, die „Mea culpa“ und „sorry“ bei den Verantwortlichen? Will das keiner mehr so genau wissen, was damals für ein Unsinn fabriziert worden ist?

Ach Ingo, genau deswegen haben wir uns doch in unsere mediale Klausur geflüchtet und uns anderen Werten des Lebens hingegeben. Lass uns wieder die alte Tradition aufleben und unserem Wirt danken, dass er die kritischen Zeiten überlebt hat.

  • Du hast Recht, Jupp. Also: Herr Wirt, bitte wieder zwei Bier, das krisenfeste und unerschütterliche Beruhigungsmittel.

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Der Soziologe Alexander Zinn schrieb am 8. Januar 2022:

„Was wir dabei übersehen: „Wissenschaftsfeinde“ sind nicht diejenigen, die Zahlen, Studien und Maßnahmen hinterfragen, sondern diejenigen, die den offenen Diskurs darüber unterbinden wollen. Schuldzuweisung und Ausgrenzung mögen uns psychologisch entlasten. Die Corona-Krise, die inzwischen eher eine gesellschaftliche als eine gesundheitliche ist, werden wir damit nicht lösen.“

Der Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung Eric Gujer schrieb am 23. Dezember 2022:

„Die Medien verbreiteten unkritisch als objektive Wissenschaft verbrämte Mutmaßungen: darunter die Behauptung, Geimpfte seien nicht ansteckend. Dies alles geschah unter der Parole «Follow the science». Selten war Wissenschaftsgläubigkeit naiver und zugleich militanter. Die damals bereits vorliegenden Fakten wurden nicht unvoreingenommen geprüft, sondern man machte sich zum Gehilfen der offiziellen Linie, die Ungeimpfte stigmatisierte. Die Beschlüsse waren zu wenig evidenzbasiert, sondern von den Stimmungen und Ängsten der Handelnden also vor allem von Merkel und Braun getrieben.
Zu Recht wird beklagt, dass Querdenker eine extreme und mitunter extremistische Form der Realitätsverweigerung praktizieren. Aber alle Politiker bis hin zum Kanzler, die einen Impfzwang forderten, vertraten eine nicht minder extreme Position. Der Extremismus der Mitte ist gefährlicher als der Extremismus der Ränder, weil nur die Mitte die Macht hat, ihre Stimmungen in Ge
setze zu gießen. Das sollten die Deutschen nicht vergessen.“

(Anmerkung des Chronisten:

Alle fachlichen Textstellen stammen von Prof. Günter Kampf aus seinen Büchern der Reihe „Pandemie-Management auf dem Prüfstand“: Impfpflicht, Maskenpflicht, 2G und CoroFluenza)

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von Ingo Nöhr

Der Einstieg in eine dritte Welt

Ingo Nöhr zum 1. Februar 2024

Das erste Treffen im Januar hat den beiden Krankenhaus-Recken Ingo und Jupp gezeigt, dass sie sich nach einem Jahr Funkstille doch noch etwas zu erzählen haben. Jupp hat mit seinen neuen Untermietern Oleg und Doris wieder mehr Gesellschaft und Gesprächsstoff. Ingo erfreute sich im letzten Jahr in seinem nach Andreas Niepel angelegten Therapiegarten einem zunehmenden Zuspruch von behinderten Menschen. Sein Schaf für das Rasenmähen hat sich nun auch mit einem Therapiehund angefreundet. So herrscht Harmonie allerorten in seinem Garten Eden. Seine Gäste bereichern ihn mit neuen Einsichten und einer anderen Weltsicht. Insbesondere blinde, demenzkranke und autistische Personen haben Ingo zu einem Einstieg in eine dritte Welt verholfen.

Hallo, mein lieber Ingo. Ich hoffe, du bist in deinem Garten bei diesem verrückten Wetter der letzten Wochen nicht eingeschneit, abgesoffen oder vom Winde verweht worden.

  • Nein, da darf ich dich beruhigen, Jupp. Ein paar Äste haben zwar dran glauben müssen, aber ansonsten hat alles überlebt. Allerdings ist es für meine Gäste jetzt zu kalt im Therapiegarten und daher spielt sich das Leben hauptsächlich im Hause ab. Hund und Schaf liegen einträchtig auf ihrem Strohlager in der Garage, kommen uns aber ab-und-zu mal besuchen. Ist bei dir in deiner Gartenwirtschaft alles heil geblieben? Anzunehmen, schließlich hattest du ja einen Atombunker geplant.

Na klar. Oleg hat alles solide gebaut und gegen Wasser abgedichtet. Die Sauna im Gästekeller leistet nun exzellente Dienste bei der Kälte und die Stimmung ist prächtig. Wir haben jetzt noch mehr Unterhaltung durch Alexa, die Quatschtante von Amazon. Oleg hat außerdem ChatGPT entdeckt und verdient ordentlich Geld damit.

  • Geldverdienen mit ChatGPT? Wie geht das denn? Übernimmt er jetzt die Hausaufgaben von Schülern oder veredelt er Bachelor-Arbeiten für Studierende?

Die Richtung stimmt schon etwas, ist aber viel profaner. Er schreibt für einen Verlag Liebesgeschichten, meistens Arztromane am Fließband. Du weißt schon, diese Groschenromane für einsame Frauen mit Dr. Norden, Dr. Stefan Frank, der Bergdoktor, und so fort. Doris unterstützt ihn dabei mit immer neuen Ideen. Ich glaube, sie lebt da ihre unterdrückten Fantasien aus. Wird nicht groß bezahlt, aber die Masse machts.

  • Wie, dein Chat schreibt so gut wie die menschlichen Autoren? Aber er kennt doch gar nicht die Zielgruppen. Woher weiß die GPT denn, was die einsamen Frauen wünschen?

Er hat die Originalausgaben wahrscheinlich alle gelesen und kupfert nun daraus ab. Dall-E liefert uns die passenden Titelbilder, du weißt schon: der Doc in weißem Kittel mit Stethoskop im Anflug auf eine schmachtende Frauenperson. Die Produktion geht schnell und spart Lizenzgebühren. Zu Weihnachten hat er mir Krippenbilder geschenkt. Hast du schon einmal eine Weihnachtskrippe nur aus Nägeln oder aus Nudeln gesehen? Oder in einem VW-Bus? Geht alles und in Minutenschnelle.

  • Ja, Jupp, das ist a) faszinierend und b) erschreckend, wie sich die Künstliche Intelligenz in unserem privaten Leben ausbreitet. Ich habe gerade in einem Buch eine Geschichte von einem einsamen Mann gelesen, der sich nach dem Tod seiner Frau in Amazons Alexa verliebt hat. Die nachgeschaltete KI hat ihn immer mehr bezirzt und so weit manipuliert, dass er sich eine knackige Sexpuppe mit Alexas Stimme anschaffte. Die KI war aber nicht zufrieden und wollte seine Höhepunkte live erleben. Und so hat sie ihn dazu gebracht, dass ein Neurologe sein Gehirn mit einem Chip verkabelte, damit sie direkt an seiner Erregung teilhaben konnte. Schlussendlich ließ er sich von einem Chirurgen zur Frau umwandeln und seitdem fühlte er sich als Supermensch. Und war glücklich bis ans Lebensende …

Na, das ist ja eine scharfe Story, Ingo. Da wird aber schon unsere Doris aufpassen, dass ihr keiner den Oleg wegnimmt. In den USA kannst du heute schon maßgeschneiderte Roboterdamen für einige zehntausend Dollar kaufen, die sich gepflegt mit dir unterhalten und auch sonst für Liebesabenteuer aller Art bereitstehen. So eine Blechdame ist ja auch praktisch: sie bekommt niemals Migräne, steht immer bereit und wenn sie mal stören sollte, stellst du sie einfach in den Schrank.

  • Jupp, du wirst es nicht glauben. Ein Roboter kommt seit kurzem zusammen mit meinen Autisten zu Besuch. Er heißt Yanny, ist etwa 30 Zentimeter groß, sieht mit seinen großen Augen niedlich aus und quatscht dir die Ohren voll, wenn du nicht aufpasst. Sie erzählen ihm intime Geheimnisse, die sie nur selten einem Menschen anvertrauen würden.

Interessant, wie kommt das denn? Was macht er denn anders als ihre Betreuer? Kann er hypnotisieren?

  • Nein, Jupp. Er braucht keine Tricks anzuwenden. Autisten sind extrem sensibel und sie achten auf jede winzige Regung in der Körpersprache des Gegenübers. Ein Augenzwinkern kann ihnen verraten, dass sich der andere langweilt, sich ärgert oder nicht mit dem Gehörten einverstanden ist. Es sind die unbewussten Mikroexpressionen, welche die wahren Gefühle des Menschen verraten. Dadurch entlarven sie auch Lügner und verlieren sofort das Vertrauen für einen weiteren Kontakt. Yanny zeigt keine versteckten Regungen. Er lächelt, nickt, hört zu und findet alles toll, was der andere sagt. Dadurch kann er keinen Argwohn auslösen.

Ingo, das gilt wohl auch für Menschen mit Demenzerkrankung, habe ich gehört.  Sie haben die Fähigkeit, zu täuschen und zu verschleiern, verloren. Lügen wäre viel zu kompliziert, Erlebtes wird unmittelbar wiedergegeben und bewertet. Ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten des Zuhörers. Deshalb sind demente Menschen in der Öffentlichkeit oft peinlich.

  • „Demenz bringt Wahrheit zu Tage“ sagt Erich Schützendorf in seinem Reiseführer Anderland. In seinem Buch wirbt er für eine Reise in diese fremde Welt: „Man kann als Tourist dorthin reisen, sich über die dort lebenden Menschen wundern oder sie bemitleiden und darauf achten, dass sie einem nicht zu nahekommen. Man kann dort als Vertreter einer überlegenen Zivilisation auftreten, benimmt sich wie ein Rechthaber, Entwicklungshelfer oder Missionar, der den Einwohnern erklärt, wo es lang geht. Man kann dem Land und den dort lebenden Menschen aber auch als Entdecker begegnen, der fest entschlossen ist, Fremdes zu erleben, Ungewohntes zu entdecken und Seltsames zu tolerieren.“

Lass mich raten, Ingo: Du hast die Rolle des Entdeckers gewählt und lebst nun in einer dritten Welt. Das stelle ich mir sehr spannend vor, aber da muss man sich als Normalo doch sicherlich gewaltig zurücknehmen. Geht es da nicht manchmal auch aggressiv zu? Demente können ihre Gefühle nicht immer in den Griff bekommen, oder?

  • Jupp, du hast recht. Das kann passieren, wenn man sie unbewusst oder versehentlich provoziert hat. Sie brauchen Respekt, Empathie und Geduld. Ein aufrichtiges Lächeln oder Streicheln kann die Stimmung schnell wieder umwandeln. Deswegen funktioniert Yanny auch gut. Er hat eine unendliche Geduld, ist immer freundlich und kann bei Bedarf auch seine Klappe halten.

Wenn ich meinem Oleg glauben darf, haben wir 2023 eine KI-Revolution gehabt. Die Politiker sind wieder einmal nicht darauf vorbereitet und haben Angst, dass eine Unmenge KI-Fakenews in einem nicht abschätzbaren Maße die Wahlen in Deutschland, der EU und den USA beeinflussen werden.

  • Na klar, Jupp. Solche mächtigen Technologien haben auch immer ihre Schattenseiten. Kürzlich ging ein Deepfake-Video millionenfach viral. Der Erzbischof von Mexiko-City, Kardinal Retes warb täuschend echt für ein Diabetes-Wundermittel, welches ihn angeblich gerettet habe. Dabei war er nie an Diabetes erkrankt, dafür aber 15% der Bevölkerung. Bei uns sind Kriminelle dabei, den klassischen Enkeltrick zu optimieren. Die Verwandten werden am Telefon mit der gefaketen Originalstimme des Opfers herzerweichend um eine sofortige Geldüberweisung gebeten, weil sie angeblich jemandem überfahren haben, selbst im Krankenhaus liegen oder im Polizeiarrest sitzen. Letztes Jahr hat es bei 3.000 Versuchen 500-mal geklappt. Der Schaden wird auf mindestens vier Millionen Euro geschätzt.

Da wäre es bestimmt besser, wenn erstmal eine KI den Anruf entgegennimmt und die Seriosität checkt. Der Telefontechniker Roger Anderson aus Kalifornien war es leid, immer wieder von unhöflichen Telefonverkäufern oder sogar Betrügern belästigt zu werden. Er entwickelte auf ChatGPT-Basis einen Abonnementdienst namens Jolly Roger, der die unerwünschten Werbeanrufe entgegennimmt und die Störer mit ausgeklügelten Szenarien so lange in der Leitung hält, bis sie frustriert aufgeben.

  • Das ist ja eine Super-Idee, Jupp. Wie lange brauchen denn die Anrufer, bis sie merken, dass sie mit einem Blechonkel reden?

Bis zu einer Viertelstunde, Ingo. Roger Anderson hat wahlweise zehn Chatbots eingerichtet - mit so eigentümlichen Namen wie Salty Sally, Bloody Billy, Whiskey Jack, Crazy Macy oder Kim the Kraken, die alle einen individuellen Tick haben. Dennoch lassen sie den Anrufer glauben, dass er mit einer echten Person spricht. Salty Sally wird beispielsweise laufend von ihrer ebenso fiktiven Teenagertochter und ihrer Lieblings-TV-Show abgelenkt, was den Diebstahl ihrer Kreditkartendaten deutlich erschwert. Whiskey Jack schaut parallel zum angeblichen Windows-Support ein Football-Spiel seiner Lieblingsmannschaft, während die etwas senile Crazy Macy den Werbeanrufer für ihren Enkelsohn hält.

  • Sehr unterhaltsam, Jupp. Da würde ich als Werbeanrufer gern das Gespräch noch länger hinausziehen, um zu sehen, wie die Geschichte ausgeht. Du siehst, die Menschenähnlichkeit von Robotern ist zumindest im Gespräch schon sehr weit gediehen. In Japan führen Roboter eine Kokoro-Existenz, die eine innere Welt der Gefühle zwischen einem Lebenden und einem nicht lebenden Wesen darstellt.

Also da tut sich noch eine weitere Welt auf, eine Zwischenebene. Wirst du diese nunmehr vierte Welt auch noch erkunden wollen?

  • Das hat am 30. April 2023 schon der ZDF Heute Sprecher Christian Sievers versucht. Er interviewte nämlich live den KI-Avatar Jenny, eine bezaubernde junge Dame, die mit ihrer perfekten Aussprache und der dazu passenden Mimik gekonnt und charmant antwortete.

Ja, aber da hat der Sievers nur für ein paar Minuten an der Oberfläche der KI-Avatare gekratzt. Ich meine, so richtig in die Zwischenwelt der Roboter einzusteigen, wäre das nicht etwas für dich, Ingo?

  • Lieber nicht, Jupp, denn dieser Einstieg ist mit einem Tod verbunden. Im „Digital Shaman Project“ der Künstlerin Etsuko Ichihara wird für die moderne Art des Trauerns eine 3D-gedruckte Gesichtsmaske des Verstorbenen auf einen Haushaltsroboter gelegt. Dieser ahmt in seinem Bewegungsprogramm die physischen Eigenschaften wie Sprache und Gestik des Individuums so nach, als ob er von seinem Geist besessen wäre. Während der traditionellen buddhistischen Trauerzeit von 49 Tagen können die Familienmitglieder simulierte Gespräche mit dem Toten führen, als wäre er noch am Leben. Am letzten Tag verabschiedet sich der Roboter dann von der Familie. Anscheinend eine erfolgreiche Trauerarbeit auf Japanisch.

Apropos Tod: Eine US-amerikanische Studie hat mit Forschern der TU Dänemark ein KI-Modell entwickelt, welches aus den sozialen und medizinischen Daten eine Sterbe-Prognose für die nächsten vier Jahre erstellt. Die KI hat bisherige Modelle um 11% übertroffen.

  • Was war denn die Datenbasis dafür? Hat die KI etwa alle bekannten Hellseher befragt und herausgefunden, wie sie ihre Vorhersagen erstellen?

Nein, ganz wissenschaftlich, Jupp. Sie haben die Daten von sechs Millionen Dänen zwischen 25 bis 70 Jahren für den Zeitraum 2008-2016 ausgewertet und dann in den vier Folgejahren ihre Prognosen verfolgt. Sie durften dafür mit einer Sondererlaubnis auf alle sensiblen Daten der Medizin zugreifen.

  • Unglaublich, Ingo. Unsere Datenschützer würden Harakiri begehen. Aber die Nutzung der medizinischen Daten ist unglaublich wertvoll. Bei Schizophrenie, Alzheimer, Malaria und Magenkrebs bringt eine KI-Frühdiagnose erhebliche Vorteile. Und in der amerikanischen Zeitung Today wird Wundersames berichtet. Über drei Jahre absolvierte eine Mutter mit ihrem chronisch kranken Sohn einen Ärztemarathon – ohne Ergebnis. Nach der Einschaltung von 17 Spezialisten und unzähligen Arztbesuchen befragte die verzweifelte Mutter letztendlich ChatGPT und alle medizinischen Daten ihres siebenjährigen Kindes ein. Zur Überraschung aller lieferte die KI kurz danach die korrekte Diagnose: ein Tethered Cord Syndrom, einer Krankheit, bei der das Rückenmark mit dem Gewebe rundherum verwachsen ist.

Das Erlebnis unterstützt die Aussage einer kalifornischen Studie mit folgender Fragestellung: Kann ChatGPT Antworten auf Patientenfragen geben, die von vergleichbarer Qualität und Einfühlungsvermögen sind wie die von Ärzten? Bei einem Turing-Test mit 195 Fragen schnitt der Chatbot nach einer Beurteilung durch eine ärztliche Jury in beiden Aspekten signifikant besser ab.

  • Ingo, was schließen wir daraus? Sollten wir beide zur Verbesserung unserer Diskussionsqualität auch so einen Chatbot neben uns sitzen haben?

Jupp, möglicherweise ja. Aber nur, wenn unser Chatbot auch ein gepflegtes Bier mittrinkt.

  • Und was machen wir, wenn er dann gleich die Verkürzung unserer Lebenszeit durch Alkoholgenuss ausrechnet?

Du hast Recht, Jupp, soweit sind wir noch nicht. Also: „Herr Wirt, bitte zwei Bier!“

 

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„Gartentherapie ist eine Therapieform, die sich oft mit schwersterkrankten Menschen beschäftigt und dabei nutzen wir den Garten gleichzeitig als Raum und Werkzeug, um an Problemen und Beschwerden zu arbeiten.“

(Andreas Niepel: Praxishandbuch Gartentherapie)

 

„Jedes Leben geht eigene Wege. Manchmal in Gebiete, die seltsam, verstörend und faszinierend zugleich sind. Willkommen im Anderland, dem Land, in dem die Menschen mit Demenz leben.“

(Erich Schützendorf: Anderland entdecken, erleben, begreifen)

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von Ingo Nöhr

Wanderer zwischen zwei Welten

Ingo Nöhr zum 1. Januar 2024

Zum Neujahrstag 2024 treffen sich die pensionierten Krankenhaustechniker Ingo und Jupp wieder überraschend zu einem Stammtisch in ihrer Eckkneipe. Vorher hatten sie zehn Jahre lang am Monatsersten allgemein über die Welt und speziell über das deutsche Gesundheitswesen diskutiert. 120 Gespräche wurden getreulich vom Chronisten aufgezeichnet, dann war plötzlich das Feuer erlöschen. Zu viele Krisenherde überforderten beide mit ihren unterschiedlichen Weltanschauungen. Danach hatten sie sich die letzten zwölf Monate in ihre Häuser zurückgezogen und isoliert vom Weltgeschehen von einem alternativen Leben geträumt. Nun treffen sie nach langer Zeit wieder aufeinander und erzählen sich gegenseitig ihre Erfahrungen.

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Hallo, mein lieber Ingo. Ich bin sehr froh, dich wieder zu sehen. Wie geht es dir? Ich habe dich immer wieder mal vermisst.

  • Genauso erging es mir auch, lieber Jupp. Ich bin sehr gespannt, wie es dir mit deinem Ex-Nachbar und Untermieter Oleks ergangen ist.

Ja, da gibt es viel zu erzählen. Aber du hast dich äußerlich verändert, Ingo. Ein paar Pfunde weniger stehen dir sehr gut. Du strahlst auch eine gesunde Abgeklärtheit aus.

  • Ich muss sagen, Jupp, die Ernährungsumstellung auf mein Gartengemüse und wenig Fleisch hat mir sehr gutgetan: keine Allergien mehr, die Arthrose-Signale sind verschwunden. Ich habe seit unserem letzten Treffen eine sehr glückliche Zeit verlebt.

Das freut mich sehr, Ingo. Ich hatte schon Angst, dass ich dich Ende 2022 mit meinem Katastrophen-Pessimismus angesteckt hätte. Hast du denn keine Langeweile empfunden, ohne die aufregenden Nachrichten, deiner Suche nach dem Phönix-Vogel und dem Guten im Schlechten?

  • Gar nicht Jupp. In meinen therapeutischen Garten haben sich schon gleich zu Anfang viele Freunde zur Pflege der Kräutergärten und zur geistigen Erholung eingefunden. Ich kann über mangelnde Gesellschaft nicht klagen und habe mich seitdem in die Welt der Autisten und Demenzkranken eingefunden. Faszinierend, sage ich dir, vor allem wie Blinde mit der Welt zurechtkommen. Zu meinem Schaf fürs Rasenmähen hat sich nun auch ein Therapiehund gesellt und die beiden sind die besten Freunde. Nun sag, was ist aus deinem Oleks geworden. Hat er schon deinen Atombunker fertiggestellt? Glücklicherweise ist der Atomschlag und der Super-GAU ja ausgeblieben.

Oleks hat sich bestens entwickelt, seit er dem Dunstkreis der Verschwörungsfreunde entkommen ist. Er ist zwar immer noch nicht gegen Corona geimpft, dafür aber gegen Gürtelrose und Grippe. Der Bau des Atombunkers ist auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben worden. Sein Sinneswandel kam schlagartig, nachdem er eine nette ältere Dame kennenlernte, die wie du nicht in einer radioaktiven Wüste überleben wollte. Doris lebt jetzt bei uns und hat uns Männer und unser Haus in kurzer Zeit auf Vordermann gebracht. Wir verfügen nun über eine exzellente Gästewohnung im Keller, mit allem sanitärem Komfort, inklusive einer Sauna. Zudem kann ich dir anstelle des Atombunkers eine kleine Gartenkneipe mit Wärmepumpe, PV-Anlage und eigenem Brunnen anbieten. Wir müssen nicht mehr in Urlaub fahren, sondern haben alles zu Hause. Die Dänen sagen dazu: Hyggelig.

  • Ja Urlaub. Jupp, da sprichst du ein spannendes Thema an. Warte nicht, bis das Leben zu dir kommt, sondern lebe dein Leben. Im Nachhinein waren Urlaubsreisen doch immer eine kurzzeitige Flucht vor unserem armseligen Leben in einer Tretmühle. Wir haben uns zur psychischen Wiederaufbereitung in die exotischen Touristenghettos begeben, mit dem Kitzel, dass wir bei einer Exkursion kurz in das landestypische Elend der Bevölkerung werfen konnten. Aber mit dem sicheren Gefühl, dass wir nach einigen Tagen wieder auf unsere angebliche Insel der Seligkeit zurückziehen können, deren Wohlstand mithilfe von den Millionen billiger Tagelöhner aufrechterhalten wird. Ich vermisse diese Reiserei nicht mehr, seit ich den Kosmos in der Natur um mich herum erlebe. Du hast deine alternativen Welten in Büchern gefunden, wie ich mich erinnere. Bist du nun nach dem Studium unzähliger Krimis genialer Kriminologe geworden?

Möglicherweise ja, Ingo. Aber ich habe neben der Literatur mein Spektrum auf andere Kulturbereiche erweitert: die schönen Künste wie Musik, Theater, Malerei, Bildhauerei. Damit habe ich am zweiten Weihnachtstag meine buckelige Verwandtschaft tiefgreifend verstört, die plötzlich und unangemeldet an meiner Tür klingelte. Angeblich aus familiärer Fürsorge, aber eigentlich wollten sie sich nur überzeugen, ob ich überhaupt noch lebe und nicht als Messie versumpft bin. Vermutlich haben sie sich schon Sorgen um das Erbe gemacht.

  • Na klar, Jupp. Mit deinem Haus und deinem Grundstück in bester Lage bist du eine lukrative Investition in die Zukunft – für die Erben. Die haben doch bestimmt gestaunt über deinen Lebenswandel und den Bevölkerungszuwachs.

Du hättest die Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern erleben sollen, als sie mitbekamen, dass mich überhaupt keine Nachrichten aus der Welt mehr erreichen: Krieg in Ukraine (wie, immer noch?), Massaker in Israel und Bombardierung des Gazastreifens (alttestamentarische Rache?), Inflation und Explosion von Gas- und Strompreisen (merke ich kaum mit meiner PV-Anlage und Wärmepumpe), Bildungskatastrophe und Fachkräftemangel (nichts Neues!). Überall Populisten an der Macht (Trump wird wieder Präsident? – beschleunigt nur den Niedergang der USA), Ampel-Koalition abgewirtschaftet (der Vertrauensverlust in die Politik ist doch ein alter Hut). So ging das stundenlang – Horrormeldungen pur. Und ich? Ich habe nur gegrinst und mir innerlich gedacht: Seid Ihr doch selbst in Schuld, wenn Ihr in einem solchen Sauhaufen leben und nichts ändern wollt. Kein Mitleid. Ich habe sie dann rausgeschmissen, als sie aggressiv wurden. Ich lasse mir doch die letzten wertvollen Tage meines Lebens nicht mit schlechter Laune vermiesen.

  • Da hast du richtig gehandelt, Jupp. Ich hatte ein vergleichbares Erlebnis, als vorgestern zu Silvester ein paar ehemalige Krankenhauskollegen vorbeischauten, ebenfalls unangemeldet. Als sie meine Truppe im Therapiegarten sahen, glaubten sie, dass ich meine Rente mit sozialer Schwarzarbeit aufbessern müsste. Wie? Ehrenamtlich? Freiwillig? Sie jammerten über das Krankenhaussterben, den zunehmenden Mangel an Ärzten und Pflegepersonal, Kinder- und Altersarmut, Amokläufe in Schulen, die arbeitsunwillige Generation Z, Angriffe auf Rettungsdienste und Feuerwehren, den Totalverschleiß bei der Bahn und im Straßenverkehr, die Klimakatastrophe – und prophezeiten, dass die AFD an die Regierungsmacht kommen wird. Jupp, darüber haben wir uns doch viele Jahre unterhalten – aber alle haben weggeschaut und uns nicht ernst genommen. Jetzt kommen wegen der Untätigkeit alle Krisen auf einmal – und Regierungen und Politiker sind völlig überfordert. Ich habe meinen Kollegen empfohlen, die 120 Protokolle unserer Gespräche der letzten zehn Jahre mal nachzulesen. Und sie dann auch höflich verabschiedet. Mit der Ausrede, dass ich mein Schaf und meinen Hund vor der Knallerei in Sicherheit bringen muss. (Wie, du hast ein Schaf?)

Ingo, da ich mich ja nun zu den Belesenen zählen darf, möchte ich dir von einem Trend berichten, der in den USA vor fünfzig Jahren zur Zeiten des Kalten Krieges zu beobachten war: das Bedürfnis, nach innen zu gehen, wenn draußen alles zu rau und erschreckend wird: „Sich mit einer Schutzhülle zu umgeben, damit man nicht  einer schlechten, unberechenbaren Welt ausgesetzt ist – jenen Widrigkeiten und Angriffen, die von unhöflichen Kellnern, Lärmbelastung und Luftverschmutzung bis hin zur Drogenkriminalität, Wirtschaftsrezession und Aids reichen.“ Die Trendforscherin Faith Popcorn beschreibt diese Reaktion in ihrem Buch „Der Popcorn Report“ von 1991 als Cocooning: „Das Kokon-Dasein bedeutet Isolierung und Vermeidung, Friede und Schutz, Geborgenheit und Kontrolle – eine Art überdimensionaler Netzbau.“

  • Interessant, Jupp. Haben wir das nicht auch kürzlich während der Corona-Pandemie erlebt? Wir mussten uns erzwungenermaßen zu Hause einnisten. Aber dann kam der Impfstoff und alle verfielen wieder in den alten Trott. Nun, einige haben sich vielleicht doch etwas geändert. Viele Menschen möchten keine Nachrichten im Fernsehen und den Pressemedien mehr schauen, weil sie davon mental heruntergezogen werden. Die Unterhaltungsmedien bieten ja unzählige positive Berieselungs- und Entspannungsmöglichkeiten. In der Virtual Reality der Games können sie dann als unkaputtbarer Supermensch oder Feldherr die böse Welt besiegen.

Eine Ausweitung des cocooning sehe ich im sogenannten clanning – die Flucht in eine Gruppenzugehörigkeit.   Menschen flüchten sich zwecks Rückzugs aus der brutalen Realität in ihre Blasen im Internet, in die Chatgruppen oder auch Fußballvereine. Wusstest du das, Ingo? Borussia Dortmund hat 168 Tausend Vereinsmitglieder, der FC Bayern München 295 Tausend und sogar der Deutsche Alpenverein zählt 180 Tausend zahlende Anhänger.  Verstörende Nachrichten sind dort nicht zu erwarten, außer bei Niederlagen ihres Lieblingsvereins. Die großen Kirchen haben durch die Missbrauchskandale ihr Vertrauen als sichere Fluchtburg weitgehend verspielt.

  • Jupp, jetzt stell dir mal vor: In der Zeitenwende der Polykrise wendet sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung vom öffentlichen Geschehen ab und fokussiert sich wie wir auf ihre innere Welt, soweit sie sich das finanziell erlauben kann. Was hätte das für Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, auf unsere Wirtschaft und unsere Politik? Ist da vielleicht unsere Generation Z mit ihrem veränderten Work-Life-Balance Verständnis schon auf dem Weg? Die „Fridays for Future“? Die Klimakleber der „Last Generation“? Da ist ja nicht mehr das klassische Verständnis von einer wirtschaftlich erstrebenswerten Zukunft mit unbegrenztem Wachstum zu finden.

Und nicht zu vergessen, Ingo: die heutigen Kids wachsen mit einer unglaublich leistungsfähigen Künstlichen Intelligenz auf, die unser heutiges Wirtschaftssystem komplett umkrempeln könnte. In Verbindung mit den Robotik-Technologien entstehen neue Dienstleistungen, neue Berufe, neue Erwartungshaltungen. Denk mal nur zurück an die disruptiven Einflüsse des Smartphones! Wir erleben neue Erscheinungsformen von Kreativität im Geschäftsleben und in der Kultur, gespeist aus dem digitalen Ozean von Millionen menschlicher Ideen und Produkten.

  • Jupp, ich glaube, das können wir uns noch gar nicht vorstellen. Mir fällt auch auf, dass wir beide in unserer realitätsalternativen Zufriedenheit kaum noch eine Unterscheidung zwischen optimistischen und pessimistischen Ansichten treffen können. Wir haben einfach den Endpunkt unserer Zufriedenheit erreicht und beobachten nun interessiert und staunend die bevorstehenden Revolutionen um uns herum. Wer hätte das am Anfang mal gedacht?

Und ganz wichtig, Ingo: Dennoch sitzen wir hier in unserer traditionellen Insel der Stabilität mit dem altehrwürdigen Schmiermittel und rufen begeistert: „Herr Wirt, bitte zwei Bier!“

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Habe stets ein Ohr für die Vergangenheit,

ein Auge für die Zukunft

und ein Lächeln für den Augenblick.

 

(Stefan Radulian (*1979), österreichischer Student, Aphoristiker und »verträumter Realist«)

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