Die Zeit der Zeitenwenden
Gerade steht die Welt erneut vor einer aktuellen Zeitenwende: Ein chinesisches Start-up namens DeepSeek hat eine KI zu einem Bruchteil der Rechenleistung, der Energie und der Kosten amerikanischer KI-Modelle gebaut und so gut trainiert, dass sie dem jüngsten Modell von ChatGPT den Rang abläuft – und dann auch noch mit öffentlich einsehbarem Source- Code. Der KI-Chiphersteller Nvidia hat am Tag danach 589 Milliarden Dollar an Börsenwert verloren. Plötzlich erkennen auch wir KI-rückständigen Europäer, dass für die globale KI-Herrschaft keine Trumpschen 500 Milliarden Dollar, ein „monumental undertaking“ an Investments erforderlich sind.
Jetzt könnte ein Phänomen eintreten, welches häufig als Jevons-Paradoxon des technologischen Fortschritts auftritt: Eine billigere Verfügbarkeit von Technologien mit höherer Effizienz führt nicht zur erwarteten Einsparung von Ressourcen, sondern eher zu exponentiellem Wachstum, weil plötzlich viel mehr Anwendungsgebiete eröffnet und genutzt werden.
Unsere Freunde Ingo und Jupp wollten sich eigentlich aus der frustrierenden Öffentlichkeit in ihr heimisches Refugium zurückziehen, sind aber jetzt doch sehr neugierig auf die spannenden Zeitenwenden geworden. Sie wollen Augenzeugen der gesellschaftlichen Umwälzungen sein und treffen sich wieder zu ihrem monatlichen Stammtischgespräch in ihrer Eckkneipe.
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Hallo Ingo, ist dir auch im Garten langweilig geworden, jetzt wo so viel Revolutionäres in der Welt passiert? Wir erleben gerade Weltgeschichte live mit, ohne dass wir selbst zwischen die Mühlsteine geraten. Eine Zeitenwende nach der anderen, ich kann kaum noch folgen.
- Ja, Jupp, da gebe ich dir Recht. Nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine geht es Schlag auf Schlag: zuerst die Zeitenwende von Olaf Scholz, die Wahlen in den USA, das Scheitern unserer Ampel-Koalition, das Erstarken der AfD und nun die KI-Revolution. Das komplex-dynamische Weltgeschehen ist in enorme Schwingungen geraten.
Ach Ingo, dein Lieblingsthema ist wieder da: komplex-dynamisch. Wer sind denn diesmal die Dilettanten, die an komplexen Netzwerken herumpfuschen? Bestimmt wieder die Politiker?
- Nun ja, sie sind schließlich immer die Entscheider, die sich stümperhaft an Lösungen versuchen. Trump ist gerade mein Favorit, weil er lehrbuchhaft beim Problemmanagement alles falsch macht. Schau nur mal seine 200 Dekrete, die er am ersten Tag unterzeichnet hat: Die Hälfte davon sind unwirksam und waren als reine Show-Effekte gedacht. Die andere Hälfte wird Bumerangeffekte erzeugen, die auch dank seines Gruselkabinetts und der Speichellecker aus der Wirtschaft das MAGA-Geschwafel ins Gegenteil verkehren werden.
Das hört sich interessant an. Bring mal ein paar Beispiele. Die Abschottung des amerikanischen Marktes durch Zölle hatten wir ja schon letztes Mal angesprochen und als Konsequenz gefunden: Die betroffene Restwelt scharrt sich um die BRICS plus-Allianzen mit fast vier Milliarden Konsumenten. BRICS hat kürzlich sogar das weltweite Bruttoinlandsprodukt der G7-Staaten überrundet. Und durch seinen Ausstieg aus dem Pariser Abkommen, dem Iran-Atomabkommen und der Weltgesundheitsorganisation wird die USA nicht mehr am Verhandlungstisch mitreden können. Dann werden andere über die Weltpolitik entscheiden.
- Gut beobachtet, Jupp. Auf Stiche in das System reagiert das Netzwerk nicht kontrollierbar. DeepSeek war auch möglich, weil China durch US-Sanktionen vom KI-Chipmarkt abgeschnitten wurde. Der Mangel an Ressourcen wird als Chance wahrgenommen und setzt plötzlich schlummernde Energien frei. Die meisten Embargos sind sowieso unwirksam, weil sie bei den Betroffenen kreative Effekte erzeugen. Sein geplanter Handelskrieg wird auf seine Wirtschaft zurückschlagen.
Da passt die letzte Meldung aus der unserer Region: Trotz aller Energiesanktionen gegen Moskau kauft Europa so viel Flüssigerdgas aus Russland wie nie, auch über eine deutsche Gazprom-Tochter. Das Rekordhoch an Einfuhren zu Beginn des Jahres 2025 könnte sogar weiter steigen.
- Ja, es geht immer um Ressourcen: Arbeitskräfte, Öl, Gas, seltene Erden usw. Trump will Millionen Einwanderer ohne gültigen Aufenthaltsstatus sogar durch Blitzrazzien in Schulen, Kirchen und Krankenhäusern jagen und sie zunächst bis zur Abschiebung als Straftäter nach Guantanamo bringen. Nun melden sich einige Bundesländer, dass sie die Migranten dringend als Erntehelfer benötigen werden und ansonsten wichtige Industriezweige durch fehlende Arbeitskräfte zusammenbrechen würden. Seine Reaktion: Seine Razzien konzentrieren sich zur Strafe zunächst nur auf die Länder, die vorwiegend demokratisch gewählt haben.
Ingo, im Satiremagazin www.der-Postillion.com habe ich eine lustige Meldung gelesen: US-Präsident Donald Trump hat heute ein Gesetz verabschiedet, laut dem alle Menschen die USA verlassen müssen, deren Vorfahren in den letzten 500 Jahren in die Vereinigten Staaten eingewandert sind. Betroffen sind insgesamt rund 330 Millionen Personen, die in den kommenden Wochen in ihre Herkunftsländer in Europa, Afrika und Asien abgeschoben werden. „Die absolute Mehrheit aller Gewalttaten in den USA wird von Einwanderern und ihren Nachfahren verübt", erklärte Trump bei der Unterzeichnung des entsprechenden Dekrets. „Damit ist jetzt Schluss! Wir werfen diese Kriminellen alle raus." Bleiben dürfen lediglich etwa die 6,8 Millionen Nachfahren der amerikanischen Ureinwohner. Sie sind die einzigen US-Amerikaner, die keinen Migrationshintergrund haben. Insgesamt wird Deutschland rund 30 Millionen Ex-US-Amerikaner mit deutschen Vorfahren aufnehmen müssen. Trumps Gattin Melania muss hingegen zurück nach Slowenien.
- Jetzt werden demnächst die amerikanischen Kinder im Erdkundeunterricht einen „Golf von Amerika“ kennenlernen. Die mexikanische Staatspräsidentin Sheinbaum meinte dazu, dann könne man auch endlich zum alten Namen des amerikanischen Südwestens zurückkehren: America Mexicana. Bis zum mexikanisch-amerikanischen Krieg im 19. Jahrhundert waren heutige US-Bundesstaaten wie Kalifornien, Arizona und Texas Teil von Mexiko. Postillion schlägt ihm gerade die Umbenennung von „Earth“ in „Planet USA“ vor. Jupp, das würde seine Eingliederung von Kanada und Grönland in das heutige Staatsgebiet vereinfachen.
Ingo, zumindest könnte er in die Menschheitsgeschichte als der große Zerstörer eingehen. Als Leugner des Klimawandels und seiner Aufforderung „Drill, Baby, Drill“ für die fossilen Energien, dem Stopp der Windräder und der Förderung von Verbrennerautos wird er für künftige Rekordwerte an Waldbränden, Hurricanes, Überschwemmungen und zerstörte Landstriche sorgen.
- Jupp, Katastrophenmeldungen von Trumps Politik werden die Bürger kaum noch erreichen, nachdem die Dämme für die Kontrolle von Fakenews im Internet zerstört wurden. Wir werden künftig keiner Nachricht und keinem Bild in digitaler Form mehr trauen können – alles lässt sich nach Wunsch von der KI generieren und manipulieren. Die mündigen Nutzer wenden sich hoffentlich mit Grausen von bestimmten Plattformen ab, wo sie nur noch mit Hassmeldungen und Propaganda bombardiert werden. Letztendlich wird Trumps Politik mit allen Eingriffen in das komplexe Gesellschaftssystem scheitern. Die Ergebnisse der letzten „Friedensmissionen“ sind nicht ja wegzudiskutieren: Vietnam fiel an die Kommunisten, in Afghanistan regieren die Taliban, im Irak die Mullahs, im Gaza-Streifen weiterhin die Hamas-Kämpfer und in Afrika dominieren zunehmend die Russen und Chinesen.
Und siehst du denn einen Lichtblick für die Zukunft, wenn wir von immer mehr Möchtegern- und Gernegroß-Diktatoren umgeben werden? Die Intelligence Unit des britischen Economist kommt in einer Studie von 2024 zu ihrem Demokratie-Index zu alarmierenden Ergebnissen. Ich zitiere: „Mit Kategorien von 1 bis 10 Punkten leben nur noch 26 von 167 untersuchten Staaten in einer vollständigen Demokratie. In mängelbehafteten Demokratien leben weitere 37,6 Prozent der Weltbevölkerung, zum Beispiel Indien mit seinem nationalistischen Hinduismus. Menschen in 93 Staaten leben schon heute in unfreien, autokratischen Verhältnissen – Tendenz steigend“. Woran liegt das?
- Nun, lieber Jupp, ich glaube, es liegt an dem massiven Vertrauensverlust der Bürger in die politischen Eliten, der verführerischen Propaganda-Beschallung und der Sehnsucht nach einem starken Mann, der mit dem „Deep State“ wieder aufräumt. Pulitzerpreisträger Stephen Greenblatt hat 2018 in seinem bemerkenswerten Buch „Der Tyrann: Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert" meisterhaft herausgearbeitet, dass solche Typen wie Richard III. an jedem Ort und zu jeder Zeit zuschlagen können. Damit weist er nach, wie verblüffend ähnlich der Tyrann des 15. und des 21. Jahrhundert sind: getrieben von grenzenloser Selbstliebe als pathologischer Narzisst vom zwanghaften Bedürfnis, durch das Brechen von Gesetzen Überlegenheit zu spüren. Zudem hat Trump mit den freigelassenen Kongressstürmern und den Proud Boys seine eigene Privatarmee von 1500 Rechtsextremen zur Verfügung.
Und das bedeutet, wir sind diesem Treiben hilflos ausgeliefert? Bis der Bumerang des komplexen Systems zurückschlägt? Wo bleibt denn dein optimistischer Einschlag, lieber Ingo?
- Da erinnere ich dich an mein früheres Bild: der Vogel Phoenix, der aus der Asche aufsteigt. Mit der Verhinderung der Wahl von Donald Trump hätten wir die tieferen Gründe der Unzufriedenheit der Menschen nur übertüncht, die Verlierer des Systems wären immer noch da. Auf den angekündigten Neubeginn des gewählten Heilsbringers setzen jetzt Millionen Menschen die Hoffnung auf bessere Zeiten und die Lösung all ihrer Probleme. Seine Wähler unter den Migranten werden als erstes spüren, was ihre Wahlentscheidung angerichtet hat. Danach folgen die Republikaner, wenn sie nach dem ersten Rausch erkennen, was die neue Energiepolitik in ihrer Umwelt auslöst. Und den Demokraten wird schmerzhaft bewusst werden, wie das geliebte Amerika weltweit von wirtschaftlichen Konkurrenten und feindlich gesinnten Völkerschaften umzingelt wird. Der Ruf als Sehnsuchtsland wird auf längere Zeit ruiniert sein.
Ah, ich verstehe, Ingo. Du meinst also, da muss das amerikanische Volk einmal durch und lernen, dass sie komplett auf das falsche Pferd gesetzt haben, damit sie bei der nächsten Wahl etwas skeptischer vorgehen sollten? Du glaubst ja immer noch an das Gute im Menschen. Es könnte ja auch sein, dass sich die amerikanische Glanzzeit im Niedergang befindet, wie damals die Dominanz des römischen Reiches. Oswald Spenglers Vision vom Untergang des Abendlandes wäre dann die Zukunft?
- Du übertreibst jetzt ein bisschen mit deinem Pessimismus, mein lieber Jupp. Das Gesellschaftssystem wird auf diesen massiven Eingriff reagieren, aber anders, als Trump und seine Republikaner erwarten. Du darfst nicht vergessen, dass die Hälfte der US-Bewohner zur demokratischen Opposition gehört. Sie werden das Trump-System nicht wie verschreckte Hasen hinnehmen, denn auch sie haben mit der Anwendung der neuen KI-Welt ungeahnte Möglichkeiten, Transparenz zu den Fake-News herzustellen, eine starke Gegenpropaganda zu etablieren und mit neuen Plattformen Alternativwelten im Netz zu schaffen.
Soso, Ingo. Dann meinst du also, wir sollten auch der AfD mal die Möglichkeit zur gründlichen Blamage in der Regierungsarbeit schaffen? Und parallel dazu im Netz alle oppositionellen Kräfte vereinen und die Rechtsextremen entzaubern.
- In gewisser Hinsicht schon, Jupp. Schließlich wird der Dünger für das AfD-Unkraut nicht durch verzweifelte Wahl- und Kooperationsblockaden beseitigt, sondern nur überdeckt. Die Hindernisse können nur den Druck im Kessel vermindern, aber nicht das Feuer darunter löschen. Wir müssen aus der Geschichte lernen, nachhaltige Reformen zu Gunsten der Verlierer durchsetzen, um nicht ständig neuen Druck im Dampfkessel zu erzeugen. Und das bedeutet ein grundsätzliches Umdenken unserer kapitalistischen Wachstumswirtschaft. Wir Rentner sind nach dem Weltkrieg alle in einer sozialen Marktwirtschaft groß geworden und haben die Schaffung des Wirtschaftswunders erlebt.
Ingo, du hast gerade zwei wichtige Schlüsselwörter genannt: Markt und Wirtschaft. Da sollten wir schnell noch die Vorteile unseres demokratischen Systems genießen und auf eine positive Zukunft anstoßen.
Herr Wirt, bitte schnell noch zwei Bier vor unserem Untergang!
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Aus der Agenda 21 der UNO-Umweltkonferenz in Rio im Jahre 1992:
„… Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt. Durch eine Vereinigung von Umwelt- und Entwicklungsinteressen und ihre stärkere Beachtung kann es uns jedoch gelingen, … einen größeren Schutz und eine bessere Bewirtschaftung der Ökosysteme und eine gesicherte, gedeihlichere Zukunft zu gewährleisten. Das vermag keine Nation allein zu erreichen, während es uns gemeinsam gelingen kann: in einer globalen Partnerschaft, die auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet ist.“
Ex-Bundespräsident Joachim Gauck erklärte bei Markus Lanz am 13.7.2022 die Strategie von Lenin:
1.) Wenn du die Macht einmal hast, gib sie nie wieder auf.
2.) Um das zu erreichen, schaffe die Herrschaft des Rechtes ab und mache dir das Recht untertänig. Das Recht als Gehilfe der Macht.
3.) Erlaube keine kritische Öffentlichkeit. Das freie Wort und die freien Medien und die freie Forschung. Das muss runter gedimmt werden und muss einstimmig werden.
4.) Verschaffe denjenigen, die um ihre Rechte kämpfen, etwa als Arbeitnehmer keine eigenständigen Kampforganisation, sondern zähme die Gewerkschaftsbewegung, mache sie zu einem Organ der Staatsmacht oder der Interessen des Staates.
5.) Wenn das nicht ausreicht, schaffe ein System, das jederzeit bereit ist, großflächig Angst zu verbreiten. Dazu brauchst du einen Angstapparat, einen Geheimdienst, der den Leuten Angst machen kann und so ihre potenziellen Möglichkeiten runter dimmt.