Ingo Nöhr zum 1. Mai 2025
Was für eine rasante Zeit? In den ersten 100 Tagen hat ein psychisch kranker Mann unterstützt von einer obskuren Truppe Gleichgesinnter mit 139 Dekreten das Weltgeschehen chaotisch umgekrempelt. Wir Deutschen sollen 80 Jahre nach dem Zusammenbruch endlich unsere Kriegsmüdigkeit besiegen und mit unvorstellbaren Krediten unserer Nachkommen eine angeblich bevorstehende russische Invasion abwehren, während sich die Großmacht USA am Ende des Vietnamkriegs vor 50 Jahren nach drei Millionen Toten als Besiegte schmählich davonstehlen musste. Die Militärausgaben weltweit erreichten 2024 den Rekordwert von 2,4 Billionen Euro. Für den Umwelt- und Naturschutz bleibt dabei erstmal kein Geld übrig.
Wir haben uns in den Nachrichten notgedrungen an die täglichen Kriegsverbrechen gewöhnt und schauen hilflos den Ärmsten der Armen beim Sterben zu. Unsere größte Sorge ist dabei, dass sie dabei wenigstens zu Hause bleiben und sich nicht auf den Weg zu uns machen.
Der Papst ist gestorben, Donald Trump postet schon mal bei X vorsorglich ein KI-Foto von sich im Papst-Outfit und generiert 140.000 Likes am ersten Tag. Spanien und Portugal verbrachten landesweit ein paar Stunden ohne Strom und Mobilfunk. Und wir haben eine neue Regierung, die in ihrem Koalitionsvertrag einige irritierende Absichten hineingeschrieben hat.
Wie sollen wir bei solch einem Medienrummel noch mental gesund bleiben? Ingo und Jupp stellen auf ihrer monatlichen Stammtischrunde eine Alternative vor, indem sie die gegenwärtige Weltbühne als absurdes Theater betrachten.
# # #
Lieber Ingo, wie hast du denn dein Osterfest verbracht?
- Nun ja, Jupp, das Wetter war ja prächtig und so habe ich mit meinem Freundeskreis den Garten auf Vordermann gebracht. Der Anblick der Natur ist durch nichts zu ersetzen. Und du hast wohl wieder mit Oleks und seiner Doris in deinem umgebauten Bunker gegrillt?
Ja, Oleks ist aus familiären Gründen noch immer von der religiösen Seite der Auferstehung beeindruckt. Er vermisst die besinnliche Fastenzeit und prächtige Osterprozessionen. Ganz aufgeregt hat er mir von der neuen Kultserie Deep Down erzählt, in der sich jetzt im Mai ein bekannter Influenzer namens Knossi mit fünf anderen verrückten Typen für 100 Stunden lebendig begraben lässt, natürlich getrennt, damit es keinen Mord und Totschlag gibt. Ich habe dazu in der WELT einen lustigen Text bei „Zipperts Wort zum Sonntag“ gefunden. Willst du ihn hören?
- Dann will er wohl den alten Jesus-Rekord von etwa 70 Stunden brechen – und das Fernsehen ist dann live dabei. Finde ich etwas abartig. Aber lies mal vor.
Ich zitiere: „Gut, dass uns das Fernsehen wieder mit den religiösen Wurzeln des Festes vertraut macht, und zwar in Form einer Challenge…. Und das bringt einen zu der Frage, was wäre, wenn Jesus heute leben würde? … Fernsehsender würden sich jedenfalls gegenseitig überbieten, um die Übertragungsrechte für die noch dramatischere Kreuzigung zu bekommen, die dann von Sonja Zietlow und Jan Köppen launig kommentiert wird. Und in den Kreuzigungspausen läuft Werbung von Obi, Hornbach und Bauhaus für Nägel, Hämmer, Holzbalken und Essigschwämme.“
- Jupp, genial auf den Punkt gebracht. Das schlimme ist ja, das unsere vom Dschungelcamp abgehärteten Zuschauer das Spektakel auch noch genüsslich konsumieren würden. Esoteriker oder Mystiker könnten mir jetzt erklären, dass unsere Erde gerade durch eine giftige Kometenwolke fliegt, die unsere Welt durch deren Ausdünstungen in Stumpfsinn verfallen und geistig verblöden lässt.
Verschwörungstheoretiker würden jetzt sagen, dass es an diesen Mikrochips liegt, die uns Bill Gates mit der Corona-Impfspritze verabreicht hat. Angeblich sollen sie schon die halbe US-Bevölkerung unter Kontrolle gebracht haben. Vielleicht hat auch die Impfung bei uns längst bei einem Großteil der Wähler den Sensor für Rechtsextremismus ausgeschaltet, was meinst du dazu, Ingo?
- Blockierte Nazi-Sensorik? Dann ist es ja beruhigend, Jupp, dass unser Verfassungsschutz mit seinem AfD-Gutachten noch nicht davon betroffen ist. Was machen wir jetzt mit den Millionen deklarierten Rechtsradikalen in unserem Land? Vielleicht könnte sich unsere neue Regierung endlich mal den tieferen Ursachen der Wut und des Hasses zuwenden? Liegt es nicht auch daran, dass während der Pandemie die zehn reichsten Deutschen ihr Vermögen von etwa 125 auf rund 223 Milliarden Euro gesteigert haben? 1% des deutschen Nettovermögens muss für die untere Hälfte der Bevölkerung reichen, während dagegen die obersten 10% über die Hälfte unseres Reichtums verfügen. Fast 13 Millionen Menschen sind armutsgefährdet oder von Armut betroffen, 20% davon sind Kinder und Jugendliche, 17% unsere Rentner.
Kein Geld für Investitionen? Dafür zaubert unsere gescheiterte Politikerkaste mit einem finanzpolitischen Taschenspielertrick plötzlich 500 Milliarden „Sondervermögen“ aus dem Geldtopf. Der war vorher mittels Grundgesetz über Jahre unter dem Etikett Schuldenbremse sorgsam einzementiert. Aber nur, um den Zeitpunkt bis zur Regierungsübernahme durch die Opposition noch unangetastet zu überstehen. Das alte Schlagwort von Goebbels über die „Kriegstüchtigkeit“ ist ja erneut salonfähig geworden, denn ab 2026/2027 steht angeblich der Russe wieder vor der Tür.
- Warum soll der Russe denn solange warten, angesichts unserer nicht abwehrfähigen Bundeswehr? Was will er überhaupt von unserem Land? An Bodenschätzen können wir ihm nur noch Kohle und notfalls das Altmetall aus unseren Mülldeponien anbieten. Die Intelligenz der Deutschen ist aufgrund unseres jahrzehntelangem Chaos im Bildungssystem kaum noch wirtschaftlich nutzbar, die besten Kräfte haben sich längst in Startup-attraktivere Länder abgesetzt. Trotz der hohen Gesundheitskosten sind wir körperlich als Arbeitssklaven nur wenig belastbar, mental von permanentem Medienkonsum abhängig und überall als humorlose, frustrierte Meckerfritzen verschrien.
Also Ingo, unsere Erfolge in der IT nicht vergessen. Vor mehr als 20 Jahren wurde die digitale Gesundheitskarte auf den Weg gebracht. Sie sollte einen schnellen Überblick über die komplette Krankheitsgeschichte von Patienten ermöglichen. Es wurde ein Flop, denn nur 1% der gesetzlich Versicherten fasste Vertrauen. Also musste ein neues Produkt her: die „ePA 3.0“. Zum 1. Januar wollte Lauterbach die elektronische Patientenakte endlich in einigen Modellregionen starten.
- Ich kann mich erinnern, dass eine Menge Ärzte darüber überhaupt nicht glücklich waren. Zuviel Transparenz – plötzlich waren keine mehrfachen Wiederholungen von Röntgenaufnahmen oder Laboruntersuchungen mehr notwendig. Der Patient konnte jetzt auch seinen verordneten Medikamentenkorb hinterfragen lassen. Das würde in der Gesundheitswirtschaft liebgewonnene Umsätze und Gewinne kosten.
Trotzdem, davon wollte sich der Gesundheitsminister nicht mehr blockieren lassen. Ein paar Tage vorher stellten die ethisch orientierten Hacker des Hamburger Chaos Computer Clubs auf ihrem Kongress die gravierenden Sicherheitsmängel vor. Blamiert verfügte Lauterbach eine Verschiebung der Einführung und versprach: „Die ePA bringen wir erst dann, wenn alle Hackerangriffe, auch des CCC, technisch unmöglich gemacht worden sind.“
- Da hat unser Minister doch tatsächlich etwas Einsicht gezeigt. Sind wir doch eigentlich nicht gewohnt, oder?
Er war ja auch nicht untätig. Mitte April meldete er in Abstimmung mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik an die Gematik, dass nun alle Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt sind und die bundesweite Nutzung starten kann. Am 29. April wurde sie zunächst auf freiwilliger Basis freigeschaltet. Ärgerlich war nur, dass Notfallsanitäter und -ärzte bislang keinen ePA 3.0 Zugriff haben. Dabei sollten die Notfalldaten doch „Leben retten“.
- Wie ich hörte, ist jetzt unser Karl beruhigt durchgestartet. Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit hat Lauterbach noch schnell im alten Bundestag alle Krankenkassen, Ärzte und Therapeuten zwangsweise zur Nutzung ab 1. Oktober 2025 verpflichtet. Ab 1. Januar 2026 drohen den Verweigerern Sanktionen und Strafen. In Schweden ist sie schon seit 13 Jahren erfolgreich in der Routine aktiv, aber da hat auch kein Bürger Angst um seinen Datenschutz.
Und schon wieder vermasselten ihn die bösen Hacker die Show. Kurz danach konnten die Sicherheitsforscher des CCC öffentlich im SPIEGEL erneut einen Zugriff auf konkrete Patientenakten demonstrieren. Der zentrale neue Sicherungsmechanismus sei nachgewiesen wirkungslos: „Man hat ein zusätzliches Vorhängeschloss an die Tür gemacht, doch der Schlüssel liegt weiterhin unter der Fußmatte.“
- Schätzungen gehen davon aus, dass allein für die ePA bis 2023 mindestens 200-300 Millionen Euro aufgewendet wurden. Ich erinnere mich, dass 2023 der IT-Dienstleister Bitmarck gehackt wurde und die Versichertendaten von 300.000 Gesundheitskarten betroffen waren. Warum vergibt man nicht die unzähligen Fördermillionen an die Hackerexperten von CCC? Sie würden doch als Berater ein sicheres System für einen Bruchteil der Kosten erstellen können.
Nun Ingo, könnten sie vielleicht. Aber in USA läuft es auch nicht besser. Am 23. April 2025 wird gemeldet, dass das Unternehmen Blue Shield of California Gesundheitsdaten von 4,7 Millionen Versicherten „mit Google geteilt hat“.
- Jupp, das überrascht mich nicht. Für den Clarity-Report wurden 2024/2025 in den USA mehr als 2,25 Millionen IoMT-Geräte in 351 Krankenhäusern analysiert. Ergebnis: ca. 90% sind in Sachen Cybersicherheit höchst gefährdet. Moment mal! Warum schaust du mich gerade so komisch an?
Ingo, ich warte schon die ganze Zeit auf deinen Lieblingsspruch: komplex-dynamische Systeme. Stimmt doch, oder?
- Nun ja, ich beobachte eben sehr genau, wie Donald Trump das höchst komplex-dynamische System der amerikanischen Gesellschaft mit der Kettensäge neu programmieren will. Er erzeugt erstmal ein sofortiges und vollkommenes Chaos, sodass die bislang vorhandenen Schutzsysteme in der Justiz, den Medien und der verblüfften Bevölkerung gar nicht schnell genug reagieren können. Dann möchte er wieder wie mein berühmter Vogel Phönix aus der Asche wieder aufsteigen und als Lichtgestalt sein neues Amerika aufbauen – so nach alter Tradition, wie es die Pioniere und Cowboys im Wilden Westen nach dem Gesetz des Stärkeren praktiziert haben.
Okay, ich verstehe, Ingo. Du erwartest einen Trümmerhaufen. Und hat das alte System vorher noch die Kraft des Tsunamis, welchen du bei unserem letzten Gespräch erwartet hast?
- Ich denke schon. Denn alle diese Machtmenschen und selbsternannten Experten denken über sich nur eines: „Mein Leben ist perfekt, ich kenne die ganze Welt.“ Sie vergessen ein wichtiges Faktum: ihr unbekanntes Unwissen. „ Sorry. Ich wusste nicht, dass ich das nicht wusste!“ Es ist der altbekannte Titanic-Effekt: Was konnte schon bei einem unsinkbaren Schiff schiefgehen? Leider wusste man da noch überhaupt nichts über die Energie von Eisbergen.
Das führt wohl zu falschem Selbstvertrauen wie bei einem Kind, welches denkt, es könnte Auto fahren, weil es schon mal ein Lenkrad gedreht hat.
- Wir kennen den Effekt doch auch als Erwachsene, wenn wir glauben, dass wir keine Anleitung benötigen. Da baust du einen Schrank zusammen und merkst erst nach drei Stunden, dass du die Schrauben verkehrt herum eingedreht hast.
Das alte Thema: Man fällt erst rein, wenn es zu spät ist. Jetzt aber genug vom unbekannten Unwissen. Ich wechsle jetzt das Thema zum bekannten Wissen: Wenn ich jetzt zwei Finger hochstrecke und dem Wirt zurufe, bitte zwei Bier – dann weiß ich mit ausreichender Sicherheit, dass nach ein paar Minuten zwei volle Gläser auf unserem Tisch stehen.
- Gute Idee, Jupp. Na, dann auf das gesicherte Wissen und weg vom Blindflug.
# # #
„Wissen bedeutet zu erkennen, dass du es weißt,
und wenn du etwas nicht weißt,
zu erkennen, dass du es nicht weißt.“
(Konfuzius, chinesischer Philosoph, 551–479 v. Chr.)
„Ein hartnäckiger Begleiter der Erkenntnis
ist die Unwissenheit über die eigene Unwissenheit.“
(Stanisław Lem, SF-Autor und Philosoph, 1921-2006)