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INGOs NÖHRgeleien Februar 2022

von Ingo Nöhr

Das Streitgespräch

Ingo Nöhr zum 1. Februar 2022

Der Jahresanfang 2022 hat es auch wieder in sich. Das neue Jahr wird seinen Vorgänger doch hoffentlich nicht mit noch krasseren Ereignissen übertreffen wollen. Zumindest sorgte es gleich zu Beginn mit nie erlebten Infektionszahlen, sodass selbst die Labore vor den Unmengen an angefragten PCR-Tests kapitulieren mussten. 5,6 Millionen Coronatote weltweit erreichen langsam die Marke der 2019 an Antibiotika-Resistenzen gestorbenen Menschen: 1,2 Millionen unmittelbar plus 5 Millionen Tote mit indirekter Beteiligung. Die Menschheit bereitet sich in den Augen der Apokalyptiker genüsslich auf ihre Auslöschung vor: ein Unterwasservulkan bricht aus, Hurrikane und Orkane überziehen die nördliche Hemisphäre, Überschwemmungen an vielen Orten.

Das urzeitliche Neandertaler-Gehabe durchbricht erneut die dünne Zivilisationsschicht: An der waffenstarrenden Ukraine droht ein Krieg auszubrechen. Die NATO schickt keine Soldaten, die Deutschen keine Waffen, dafür aber 5000 Helme. Den Atomkraftwerken soll nun, auch wegen der rasant steigenden Energiepreise und Klimaschäden, der Ehrenpokal der grünen Nachhaltigkeit verliehen werden. Der anfallende Atommüll wird ja für die nächsten zehntausend Generationen irgendwo in der Erde verbuddelt. Und der alte Papst Benedikt sieht sich angesichts des weltweiten systematischen Kindesmissbrauchs seiner Kirche eines heftigen Shitstorms ausgesetzt.

Nach uns die Sintflut? Die beiden Diskutanten Ingo und Jupp versuchen angesichts der aktuellen Weltlage, ihre Fassung zu bewahren und fokussieren sich bei ihrem Stammtischgespräch erstmal auf ein naheliegendes Problem: den Verlust ihres Impfstatus.

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  • Guten Morgen Ingo, genießt du auch deine letzten Tage als Geimpfter? Bald zählst du wieder zu den Ungeimpften, wenn du dich nicht schleunigst zum vierten Boostertermin anstellst.

Hallo Jupp, ja, wer hätte das gedacht. Statt nach sechs Monaten ist die Genesung der Deutschen schon nach dreien vorbei. Allerdings nicht im übrigen Europa, da gilt noch das halbe Jahr. Die Schweizer sind noch robuster: da hält der Genesenenstatus künftig neun Monate an. Aber ein Tipp für dich, Jupp: wärst du jetzt Mitglied im Deutschen Bundestag, dann gelten für die erlauchten Politiker weiterhin sechs Monate nach der Genesung.

  • Ja, erstaunlich, Ingo. Der Begriff „Abgeordneten-Immunität“ erhält dadurch eine ganz konkrete Bedeutung. Augenscheinlich hat die Politik auch die neun Millionen Kinder unter zwölf Jahren schon zur Durchseuchung freigegeben. Mindestens 2000 Kinder werden dann wohl am Pims-Syndrom erkranken, mehr als die Hälfte wird auf der Intensivstation landen. Von den Long Covid Folgen ganz zu schweigen. Ingo, erinnerst du dich noch an die Anfänge der AstraZeneca-Impfungen? Als einer von 100.000 Geimpften eine Sinusvenenthrombose bekommen hat, wurden sofort alle Impfungen gestoppt.

Aber zur Beruhigung der Bevölkerung wird nun eine Impfpflicht für das gesamte Pflegepersonal eingeführt. Menschen, die jetzt zwei Jahre lang bis zum Umfallen gegen den Covid-19-Tod angekämpft haben, stehen nun im Fokus. Aber nicht wegen ihrer erbärmlichen Gehälter, sondern weil sie angeblich eine Gefahr für die Patienten darstellen. Wenn nur fünf Prozent der Pflegekräfte ab dem 15. März nicht mehr zum Dienst erscheinen, bricht die Versorgung zusammen und die Bundeswehr muss wieder einspringen.

  • Du siehst, Ingo, die Maßstäbe im Pandemie-Management haben sich rasend schnell verändert. Wir haben in Deutschland 20 Millionen Ungeimpfte, die noch gegen kein Gesetz verstoßen haben. Wenn nun der harte Kern von geschätzten fünf Millionen konsequent die allgemeine Impfpflicht verweigert, … wie will man dieser großen Gruppe mit Bußgeldern und eventuell noch Beugehaft beikommen? Die Impfpassfälscher sehen goldene Zeiten auf sich zukommen. In Großbritannien, Spanien, Portugal und Österreich werden dagegen trotz vierstelliger Inzidenzzahlen schon alle Restriktionen aufgehoben. Israel, das Vorbild der Welt mit harten Lockdowns und straffen Impfkampagnen, will Corona in Zukunft wie eine Grippe zu behandeln, trotz Inzidenzen von über 4000 und einer Impfquote von nur 65 Prozent.

Irgendwie verständlich oder Jupp? Wir können ja nicht ganz Deutschland unter Quarantäne stellen. Weißt du, wie bei uns die Realität aussieht? Der Berliner Schriftsteller Wladimir Kaminer erzählte kürzlich eine Begebenheit seiner Therapeutin. Sie hatte in der Gemüseabteilung eines Supermarktes plötzlich eine Patientin getroffen, die sie zwei Tage vorher in ihrer Praxis positiv auf Covid-19 getestet hatte. Die sollte eigentlich eine Woche zu Hause ihre Quarantäne absitzen. Um sie nicht öffentlich zurechtzuweisen, ging sie zum Infopoint und bat die dortige Mitarbeiterin um folgende Ansage per Lautsprecher: Diejenige Person, die gerade in Quarantäne ist, soll sich unverzüglich am Infopoint einfinden, sonst muss das gesamte Kaufhaus auf ihre Kosten evakuiert werden. Zwei Minuten später standen 25 Menschen vor dem Infopoint und schauten einander misstrauisch an. Ihre Patientin war nicht dabei. Die Therapeutin machte sich dann kopfschüttelnd schnell vom Acker.

  • Ach Ingo, das kann ich verstehen. Ich habe letztes Wochenende ein stundenlanges Streitgespräch mit meinem Nachbarn geführt, der jetzt endgültig Deutschland verlassen will. Für und wider Corona. Ich bin nirgendwo mit meinen Argumenten durchgedrungen. Zu chaotisch stellt sich mittlerweile die Pandemiesituation in Deutschland dar.

Interessant, Jupp. Ich habe eine Idee. Lass uns dieses Gespräch mal mit verteilten Rollen wiederholen. Ich versuche dich von dem Nutzen der Impfung zu überzeugen und du übernimmst die Argumente deines Nachbarn. Aber bitte mit ausreichendem Niveau.

  • Gut, das können wir machen. Ich kenne seine Antworten schon auswendig. Dann leg mal los.

Also, wir leiden ja seit zwei Jahren an diesem Covid-19 Virus und wollen da nicht ewig in der Pandemiephase stecken bleiben. Es gibt nur einen einzigen richtigen Weg aus der Pandemie, nämlich impfen. Und zwar möglichst jeden.

  • Die Gefährlichkeit des Virus ist eine Erfindung, denn Coronaviren gibt es schon seit Jahrzehnten. Die Regierung schürt nur unnötig die Panik, um mithilfe von Bill Gates den Weg in eine Coronadiktatur zu ebnen.

Das ist doch Unsinn, eine absurde Verschwörungstheorie. Klar, wir tun alles, um auch die letzten Impfmuffel zu erreichen. Und weil gutes Zureden nicht nutzt, gibt es die 2G-Regelung, um die Geimpften vor den Nichtgeimpften zu schützen.

  • Wegfall der Lohnfortzahlung im Quarantänefall, Ausgrenzung gesellschaftlicher Teilhabe, zeitweilig die Abschaffung kostenloser Schnelltests, 2G plus – das ist doch die „schwarze Pädagogik“ der CDU/CSU; Zucht- und Erziehungsmaßnahmen aus dem vorletzten Jahrhundert, aber so sieht doch keine effektive Pandemiebekämpfung aus.

Aber es ist gut gemeint und die Pflicht des Staates. Wir wollen auch die Ungeimpften vor der Ansteckung schützen, vor der Einweisung auf die Intensivstation.

  • So so. Habt Ihr uns denn vorher mal gefragt, ob wir diesen Schutz überhaupt haben wollen? Ihr greift massiv in unsere Grundrechte ein.

Aber Ihr dagegen nehmt den Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems billigend in Kauf. Somit seid Ihr Impfverweigerer unsolidarische Egoisten!

  • Die Geimpften geben doch auch das Virus weiter und leisten damit ihren Beitrag zum Kollaps des Gesundheitssystems. Der Unterschied ist: sie tun es mit Genehmigung der Regierung.

Aber die Geimpften landen nicht so oft in den Intensivbetten wie Ihr und erkranken nicht schwer.

  • Also, für die Gesamtlage ist das wesentlich unerheblich. Die Leute, die uns jetzt erzählen, dass wir unser marodes Gesundheitssystem vor dem Kollaps schützen müssen, sind die dieselben Leute, die vorher in der Regierung dafür gesorgt haben, dass unser Gesundheitssystem überhaupt marode ist.

Es hilft ja nichts, ob marode oder nicht. Bei den exponentiell wachsenden Fallzahlen stößt auch das beste Gesundheitssystem irgendwann an seine Grenzen.

  • Unser Gesundheitssystem stand zu keinem Zeitpunkt vor dem Zusammenbruch, weil exponentiell wachsende Fallzahlen in einer Region eben irgendwann von selber an ihre Grenzen stoßen.

Das Ausbleiben des Zusammenbruches geschah aber nicht von selber, sondern nur aufgrund der Einschränkungsmaßnahmen und Impfkampagnen. Du siehst doch auch jeden Tag die Zahl der Geimpften. Wir haben eine gefährliche Impflücke.

  • Weißt du denn, wofür das zweite „G“ in 2G eigentlich steht? Wann wird man denn auch mal täglich die Zahl der Genesenen veröffentlichen? Schließlich sind schon acht Millionen Deutsche genesen.

Ja, aber jetzt musste man bei den Genesenen das Intervall für eine erneute Impfung von sechs auf drei Monate verkürzen, weil der Immunschutz nicht so lange anhält.

  • Warum dürfen mündige Bürger, die nachweislich eine Infektion gut überstanden haben, nicht selbst entscheiden, ob sie diesen Vorgang wiederholen wollen?

Um die schweren Erkrankungen zu verhindern ist die Lösung einzig und allein und ausschließlich nur die allgemeine Impfpflicht.

  • Nein, die Lösung ist einzig und allein und ausschließlich nur eine allgemeine Versorgung mit dem neuen Medikament „Paxlovid“, das 90% der schweren Fälle erfolgreich verhindert.

Aber eine allgemeine Impfpflicht verhindert schwere Fälle von vornherein noch erfolgreicher.

  • Schau mal in die Statistik; 65% der Coronatoten in Deutschland sind über 80 Jahre, und weitere 20% über 70 Jahre alt. Wenn überhaupt, sollte eine Impfpflicht ausschließlich auf die Altersgruppe der über 67-jährigen beschränkt werden.

Eine Beschränkung der Impflicht auf diese Gruppe ist doch klar als Altersdiskriminierung anzusehen.

  • Ha, was für ein tolles Argument! Das Aufsetzen eines Sturzhelmes beim Fahrradfahren ist gegenüber den anderen Körperteilen doch auch nicht kopfdiskriminierend.

Lieber Jupp, lass es gut sein. Diesen Disput können wir ja noch endlos weiterführen. Ich nehme an, dass die Gründe für eine Verweigerung der Impfung viel komplexer sein können, als es auf dem ersten Blick aussieht. Angst von Nebenwirkungen, Misstrauen gegenüber den Obrigkeiten, Widerstand gegen Zwangsmaßnahmen, Verwirrung durch Uneinigkeit von Regierenden und Fachleuten, oder einfach nur Uninformiertheit. Es ist wahrlich keine Lösung, ein ganzes Viertel der deutschen Bevölkerung in die Nähe von Rechtsradikalen und Chaoten zur drängen. Wir sollten auf jeden Fall eine Spaltung der Gesellschaft durch Kommunikationsverweigerung vermeiden. Wir sehen ja konkret die aktuellen Auswirkungen in den Vereinigten Staaten.

  • Das ist natürlich auch meine Meinung, mein lieber Ingo. Wenn wir auch oft unterschiedliche Ansichten haben, so reden wir doch miteinander und trinken anschließend ein kühles Bier.

So soll es wieder sein, lieber Jupp. Das Leben ist zu kurz, als dass wir es mit Streitereien vergeuden sollten. Prost, auf den freundschaftlichen Disput.

(Anmerkung des Chronisten: das obige fiktive Streitgespräch über die Impfung wurde in Teilen dem ausgezeichneten Kabarettletter Januar 2021 von H.G.Butzko (www.hgbutzko.de) entnommen.)

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Freiheit beginnt im Kopf: Wir müssen die Pandemie hinter uns lassen
Der Tag, an dem Corona nur eine normale Infektion der Atemwege ist, rückt näher. Noch dreht sich alles um die Pandemie. Doch am Ende ist Covid eine Krankheit unter vielen. Es gilt, die Risiken vernünftig abzuwägen.
Corona am Morgen, Corona am Mittag und am Abend. Das Thema kann niemand mehr hören, und doch kommt die Politik nicht so einfach davon los. Die immergleichen Stichworte werden wiederholt: der Kollaps des Gesundheitswesens, die Überlastung der kritischen Infrastruktur, auch die Impfpflicht darf nicht fehlen. Es fühlt sich an wie eine einzige, nervtötende Endlosschleife.
Zugleich hat sich die Gesellschaft mit den Einschränkungen arrangiert. Der Mensch ist nun einmal ein Gewohnheitstier. Irgendwann wirkt das Unvorstellbare normal, selbst die Pandemie wird zur Routine. Es braucht daher eine bewusste Anstrengung, bis sich wieder ein Denken durchsetzt, das nicht vom Ausnahmezustand bestimmt wird. Freiheit beginnt im Kopf.

(Eric Gujer, Neue Zürcher Zeitung vom 21.01.2022)

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