Ingo Nöhr zum 1. September 2025
Die KI-Version des letzten Stammtischgesprächs hat nicht nur unsere beiden Protagonisten überrascht. Viele Leser fragen sich entgeistert, ob nun das Ende der Kolumne angebrochen ist. Geht der Chronist in Rente und lässt ab jetzt die Denkmaschine für sich arbeiten? Grund genug für Ingo und Jupp, sich mal wieder ernsthafte Gedanken über den Zustand unserer digitalen Welt zu machen.
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Hallo, Ingo. Du hast ja auch mitbekommen, dass unser letztes Gesprächsprotokoll von einer KI geschrieben wurde. Das ist doch eine bodenlose Frechheit. Unser Chronist will uns durch KI-Avatare ersetzen. Spinnt der jetzt total?
- Gemach, Jupp. Komm wieder runter. Du hast ja in seinem Nachtrag gelesen, dass er selber fassungslos über das Ergebnis ist. Und ich verweise auf sein Versprechen am Ende: Er liefert weiterhin das Original und keine Fakes. Wir werden künftig keinen muskelbepackten Jupp im Kimono erleben, der mit sonorer Stimme bulgarisch schwätzt.
Moment mal! Stimmt das, du Chronist am Nebentisch? Wir beobachten dich! Versprich es, sonst erhältst du ein striktes Handyverbot. Wie in der Schule. … Okay, er hat genickt. Also weiter im Text.
- Jupp, Handyverbot in der Schule! Herrlich. Die Politiker glauben echt, man kann die Digitalwelt mit einem Zettel am schwarzen Brett verbieten. Als ob die Kids dann plötzlich wieder mit Füller und Tintenkiller Hausaufgaben machen. Vergiss es – die tippen längst im Halbschlaf ‚ChatGPT, erklär mir Mathe‘, und zack: fertig! Lehrer verzweifeln jetzt schon – Digital-Analphabeten gegen Generation WLAN. Unsere Schulen sind digital ungefähr auf dem Niveau einer Telefonzelle von 1985
Also, Ingo, komm wieder in der Realität an. Lernen mit KI? 90% der Zeit verbringen unsere Kinder doch mit Instagram, TikTok, Videospielen oder als Rambo-Avatare in der Digitalwelt. Manfred Spitzer hat schon 2012 in seinem Buch „Digitale Demenz“ eindringlich davor gewarnt, „wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen.“ Er erwartet durch die Digitalisierung den massiven Verlust geistiger Fähigkeiten: Gedächtnisabbau, Aufmerksamkeitsdefizite, soziale Vereinsamung und Bildungsprobleme. Kurz gesagt: Hirn weg, Gedächtnis weg, Sozialleben weg.
- Jupp, sein Buch wurde von den Wissenschaftlern verrissen: unwissenschaftliche Herangehensweise, Pauschalisierung komplexer Zusammenhänge, fragwürdige Kausalschlüsse und so weiter. Er wird nur noch beim Seniorentreff ohne WLAN ernstgenommen. Die dahinterstehende Frage ist doch, wie wir mit der KI in der Schule umgehen sollen. Natürlich suchen die Kinder im Netz nach Hilfe – weil der Unterricht oft klingt wie Bedienungsanleitungen in Altgriechisch. Kein Wunder, dass sie sich lieber an den Internet-Guru wenden. In China gehört seit 2018 künstliche Intelligenz zum Curriculum der Schulen. Und just heute, nämlich ab 1. September 2025, ist KI verpflichtender Teil der Schulbildung – in Grundschulen.
Aber das ist doch grauenvoll: Computer in der Grundschule. Da kannst du die Smartphones direkt im Kindergarten austeilen und der KI alle Türen öffnen. Mensch Ingo, Maschinen übernehmen deine Arbeit, deine Texte und am Ende dein Hirn, wie schon unser Chronist zeigen wollte. ChatGPT macht dumm - weiß doch jeder Lehrer. Die Jugend heute kann sich nur noch sieben Sekunden konzentrieren. Danach – zack – Hirn aus, Daumen weiter. „Alexa, schreib mal meine Facharbeit über Goethe!“ – „Okay, willst du es mit Reimen oder als TikTok-Rap?“. Der Faust in 12 Sekunden? „Bin zwar klug, aber unzufrieden. Hölle ruft.“ Zack. TikTok-Rap, Katzenfilter drüber, 3 Millionen Klicks. Das ist Bildung 2025!
- Ach komm, Jupp, immer diese Schwarzmalerei! Schon Sokrates hat gejammert, dass die Schrift das Gedächtnis ruiniert. Bei jeder neuen Technik dasselbe: Buchdruck macht faul, das Fernsehen macht doof, das Internet süchtig - und? Wir leben immer noch! Der Einfluss von ChatGPT auf die Schulbildung ist gerade im Mai in einer Nature-Metastudie dargelegt worden. Dort wurden 51 Studien zwischen Ende 2022 und Anfang 2025 ausgewertet, was die Wirkung von ChatGPT auf die Lernleistung, Lernperzeption und die höheren Denkfähigkeiten angeht. Die Ergebnisse sind eindeutig: Verbesserungen in allen Bereichen. Es kommt eben darauf an, ob und wie die Digitalwelt in die Schule integriert wird.
Ingo, ich kenn das ja bei dir: als Optimist siehst du nur die positiven Seiten. Über die Smartphones erhalten die Kinder einen ungefilterten Zugang zu den berüchtigten Social-Media-Verführern. Das ständige Scrollen trainiert das Gehirn auf schnelle Reize, die längere Konzentration fällt schwerer, die Inhalte werden im „Snack-Modus“ konsumiert, die tiefere Auseinandersetzung findet nicht statt. Durch die kurzen Clips verlottern Sprachmuster und Ausdrucksformen. Das perfekte Leben von irgendwelchen Influencern, die angeblich auf Bali leben, aber eigentlich bei Mutti im Keller hocken, erzeugt Neid und Selbstzweifel. Algorithmen schaffen mit ihren Echokammern ein verzerrtes Bild von Realität und Gesellschaft. Dazu kommt die Dopamin-Falle: Likes und Followers wirken wie kleine Belohnungsschübe, die Kids werden süchtig. Social Media macht alles kürzer: Nachrichten, Aufmerksamkeit, Sprache, Gehirnwindungen.
- Ich gebe dir in fast allen Punkten recht, Jupp. Generell ist es aber eine Frage von Maß, Reflexion und Medienkompetenz, welche die Schule vermitteln muss. Denn es gibt ja auch positive Potenziale: der globale Austausch führt zu Informationsvielfalt und zur Kommunikation mit Gleichgesinnten, gerade für Nischeninteressen. Und nebenbei lernt die Jugend, sich visuell und sprachlich auszudrücken.
Ich möchte aber noch ein tiefergehendes Problem ansprechen: die totale Reizüberflutung. Neil Postman hat es schon als Weckruf vor vierzig Jahren in seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ Seine unheimlich prophetische Warnung zeigte auf, wie das amerikanische Fernsehen Inhalte von Politik, Bildung und Religion in Unterhaltung verwandelt und ernsthafte Debatten verdrängt: „Fernsehen wurde nicht für Idioten erschaffen – es erzeugt sie.“
Ich verstehe seine Botschaft sehr gut, Ingo, seitdem wir unseren Konsum von Fernsehen und Zeitungen heruntergefahren haben: Informationsüberfluss führt nicht zu mehr Wissen, sondern zu Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit. Kritisches Denken wird verdrängt, weil es anstrengender ist als die sofortige Befriedigung durch Unterhaltung. Politik wurde zur Show, Religion zur Inszenierung, Bildung zum Infotainment. Donald Trump, Papst Franziskus und Harald Lesch lassen grüßen.
- Jupp, wir können noch weiter in die Geschichte zurückgehen. 1932 veröffentlichte Aldous Huxley sein Buch „Schöne neue Welt“. Dort stellt er eine subtile und gefährliche Form der Gesellschaftskontrolle dar: die Entmündigung durch Vergnügen und endlose Ablenkung. Die beste Diktatur kommt nicht mit Knüppeln, sondern mit Dauerbespaßung. Alle kriegen ihr ‚Soma‘, lächeln blöd und denken nix mehr. In seiner Welt gibt es ständige Unterhaltung – "Fühlfilme", oberflächliche Sexualität und triviale Vergnügungen, die das Volk von tieferen Fragen ablenken. Die Menschen werden durch Technologie und Freizeit nicht kultivierter oder glücklicher, sondern diese werden als Mittel zur Kontrolle und Beruhigung der Bevölkerung eingesetzt.
Ach Ingo, wie kommt mir das alles so bekannt vor. Der selige Postman würde heute wohl sagen: Wir amüsieren uns wirklich zu Tode - und machen dabei noch Selfies am Grab. Lass uns dem digitalen Kasperletheater weiterhin mit einem guten Buch fernbleiben. Und auf unsere analoge Zukunft mit einem gesunden Soma-Ersatz anstoßen.
- Gute Idee Jupp. Bier, Buch, Basta! Herr Wirt, bitte zwei Bier! Und nebenbei bemerkt: Unser Chronist am Nebentisch hatte einen Vorschlag für eine Umbenennung unserer Stammkneipe „Zum goldenen Algorithmus".
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„Unser Fernsehapparat sichert uns eine ständige Verbindung zur Welt, er tut dies allerdings mit einem durch nichts zu erschütterndem Lächeln auf dem Gesicht. Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es uns unterhaltsame Themen präsentiert, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung präsentiert.“
(Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode, 1985)
„Unsere Abwehrmechanismen gegen die Informationsschwemme sind zusammengebrochen; unser Immunsystem gegen Informationen funktioniert nicht mehr. Wir leiden unter einer Art von kulturellem Aids.“
(Neil Postman: Wir informieren uns zu Tode, 1992)
„Ein wirklich effizienter totalitärer Staat wäre einer, in dem die allmächtige Exekutive politischer Bosse und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Sklaven kontrollieren, die nicht gezwungen werden müssen, weil sie ihre Knechtschaft lieben.“
(Aldous Huxley, Schöne neue Welt, 1932)
„Die größten Triumphe der Propaganda wurden nicht durch Handeln, sondern durch Unterlassung erreicht. Groß ist die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, ist das Verschweigen von Wahrheit.“
(Aldous Huxley, aus dem Vorwort von Schöne neue Welt, 1946)