Ingo Nöhr zum 1. Nov 2025:
Die AfD ist auf dem Weg an die Macht in Deutschland. Politiker reisen verstärkt in der Welt umher. Zeitgleich irren Millionen Palästinenser in ihrem Land umher. Die Rüstungslobby erwartet einen baldigen Einmarsch in Europa. Nun wird die Bundeswehr aufgestockt, das Gesundheitssystem auf Kriegstauglichkeit begutachtet. Die Krankenhäuser sollen im NATO-Bündnisfall täglich 3.000 Verwundete versorgen. Die Medien und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz bereiten die Bevölkerung behutsam auf den Verteidigungsfall vor. Vorausschauend hat man schon mal die virtuellen Kassen der übernächsten Generationen geplündert.
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Jupp: Sag mal, Ingo, hast du auch das Gefühl, dass grad alles in Bewegung ist? Menschen, Länder, Ideen – alle wandern. Sogar die politischen Parteien. Nur wir zwei hängen hier fest wie die Bierdeckel am Stammtisch.
- Ingo: Stimmt schon. Die Welt zieht weiter, und wir schauen ihr nach, mit ’nem halben Liter Bier in der Hand. Fangen wir mal vorne an: Die Amerikaner. Zumindest die eine Hälfte. Der andere Teil wandert millionenfach in einer No-Kings-Demo gegen Trump mit.
Jupp: Die USA sind doch schon immer unterwegs gewesen. Meistens mit Soldaten in Ländern, deren Regierung dem Präsidenten nicht gepasst hat. Begleitet von Coca-Cola und Burger haben sie den Unterentwickelten die Zivilisation nahegebracht. Das „American Dream“-Abo auf Lebenszeit war der wichtigste und leider auch erfolgreichste Exportartikel.
- Ingo: Früher waren die Amerikaner überall – Hollywood, McDonald’s, NATO, der große Weltpolizist. Aber militärisch haben sie sich eigentlich bei allen wichtigen Kriegen blutige Nasen geholt: Vietnam, Afghanistan, Irak. Jetzt wollte Trump China ärgern, aber da hatte er vergessen, dass sein Land dringend von den Seltenen Erden abhängig ist.
Jupp: Na, jetzt wandert die Trump-Truppe lieber zurück ins eigene Land, bevor die Wirtschaft komplett kollabiert und das verarmte Arbeitervolk den Aufstand probt. Die hat gerade genug mit sich selbst zu tun: „Make America Stay at Home Again“, sozusagen. Nur –wer räumt jetzt in der Welt auf, wenn Onkel Sam heimgeht?
- Ingo: Da sehe ich vorwiegend die Chinesen – sie wandern auf ihrer Seidenstraße und sind schon sehr weit gekommen. Im Gepäck haben sie 5G-Netze, KI, Robotik und Elektroautos. Schon 3000 Projekte in 150 Ländern und jetzt haben sie Lateinamerika und Afrika auf ihrem Tourneeplan. Dort werden sie begeistert empfangen, seit die Amerikaner so unfreundlich sind und die Europäer vor sich hin schlafen.
Jupp: Nun ja, die EU wurde ja unsanft aus dem Schlaf aufgeschreckt, als die Russen mit ihrer Wanderung den Westen entdeckt haben. Deren Militär muss jedenfalls sehr frustriert sein, nachdem es vorher im Osten nicht so gut lief: Korea, Vietnam, Tschetschenien, Afghanistan, Syrien – keine nachhaltigen Effekte und vor allem keinen Landgewinn. Jetzt wollten sie in drei Tagen die Ukraine von den Nazis befreien, aber die wehrten sich dummerweise mit großem Erfolg. Ich glaube, die Zeiten, um im Panzer zu wandern, sind wohl vorbei, seit in der Luft bösartige Drohnen herumschwirren.
- Ingo: In gewisser Hinsicht hatte Putin aber doch einen großen Erfolg zu verzeichnen: Er hat Europa und vor allem den Deutschen die Erkenntnis nahegebracht, dass wir mit unseren Weicheiern überhaupt nicht kriegsfähig sind. Jetzt müssen alle Defizite mit den Geldern unserer Urenkel radikal beseitigt werden. Putin hat zwar kaum noch eine einsatzfähige Armee. Aber es reichte, um uns alle in eine Massenpanik zu versetzen.
Jupp: Nicht alle reagieren panisch. Die Rüstungsindustrie kommt aus den Sektparties gar nicht mehr raus. Weltweit teilt sie sich einen gigantischen Kuchen von 2,7 Billionen US-Dollar, nachdem wir die europäischen NATO-Ausgaben seit 2014 um 70 Prozent gesteigert haben. Die Zeiten der schrecklichen Friedensdividende sind für sie endlich vorbei, die Diplomatie spielt nur noch eine untergeordnete Rolle – wir sind zur Neandertaler-Politik zurückgekehrt.
- Ingo: Unterschätze die russische Intelligenz nicht. Sie haben nebenbei eine extrem wirksame Waffe im Einsatz: Propaganda in den Social Media durch Fake News. Sie müssen nicht mehr wandern, das übernehmen jetzt Daten auf den digitalen Autobahnen. Das X von Elon Musk ist bereits tiefgreifend verseucht: Fachleute des Auswärtigen Amts haben dort Anfang 2024 ein deutschsprachiges Netzwerk mit zehntausenden Fake-Accounts aufgedeckt, welches rund eine Million russische Tweets im Monat abgesetzt hat. Im Monat!
Jupp: Früher hieß’s „Die Russen kommen!“, heute heißt’s „Die Russen posten!“ Keine Frontlinien, nur noch Internetkabel. Und wir liken fleißig mit. Da braucht man keine Raketen mehr, wenn man die Herzen und Köpfe online durch Fake News besetzen kann.
- Ingo: Sascha Lobo hat in seiner letzten SPIEGEL-Kolumne von einem KI-Test berichtet. Er befragte ChatGPT, Perplexity und Claude nach dem Schuldigen für den Ukraine-Krieg. Die Antworten gemittelt: Russland 80%, Ukraine 10%, NATO 10%. Dann stellte er der KI-Grok von Elon Musk die gleiche Frage: 40% NATO, 35% Russia 25% Ukraine. Da staunst du was? Er wiederholte die Frage. Nun hieß die Antwort: 34% NATO, 33% Russland, 33% Ukraine.
Jupp: ich habe neulich einen Bericht gelesen: Europa war 2024 der am schnellsten sich erwärmende Kontinent. Besonders im Osten hat man extreme Dürre erlebt, im Westen extreme Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit. Schon jetzt werden jährlich viele Millionen Menschen innerhalb ihres Landes durch Wetterextreme verdrängt – Überschwemmungen, Dürren, Stürme.
- Ingo: Die größte Strömung ist intern. Manche Studien rechnen damit, dass bis 2050 über 216 Millionen Menschen durch klimabedingte Ursachen innerhalb ihrer Länder umziehen könnten. Hinzu kommen geschätzte 1,2 Milliarden „Flüchtlinge“ bis zur Mitte des Jahrhunderts – wegen Klima, Armut oder Krieg. Die Epoche der großen Völkerwanderungen steht uns wieder bevor. Klimamigration befeuert Populismus, nationalistische Reaktionen, Rückschritte für demokratische Werte.
Jupp: Klimaschutz? Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wir müssen dringend Krieg führen. Und dem kranken Mann in Übersee weiterhin Honig um den Bart schmieren, damit er bloß nicht die Zölle erhöht.
- Ingo: Eine weitere Wanderung ist schon länger im Gange. Das Geld wandert von unten nach oben. Ein neuer Oxfam-Bericht sagt, dass allein in den letzten zehn Jahren das Vermögen der rund 3.000 Milliardäre um 6,5 Billionen Dollar gewachsen sei – genug, um Armut weltweit mehrfach zu beseitigen. Global besitzen die obersten 10 % etwa 52 % allen Einkommens; die untere Hälfte kommt gerade mal auf rund 8,5 %.
Jupp: Das klingt brutal. Und wie passen wir in dieses große Bild?
- Ingo: Wir – also wir zwei alten Gartenwanderer – bleiben auf unserer Scholle. Während die Welt wandert: Völker, Kapital, Technologie, Klimaflüchtlinge – wir bleiben hier, pflanzen, gießen, inhalieren Erde.
Jupp: Gut: wenn das Geld wegwandert, die Roboter wandern, die Menschen wandern – wir wandern in unseren Gärten. Bis uns jemand verjagt. Trinken wir einen Toast auf die, die bleiben.
- Ingo: Prost, Jupp. Und auf die, die trotzdem noch hoffen.
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„Ja, wir könnten jetzt was gegen den Klimawandel tun, aber wenn wir dann in 50 Jahren feststellen würden, dass sich alle Wissenschaftler doch vertan haben und es gar keine Klimaerwärmung gibt, dann hätten wir völlig ohne Grund dafür gesorgt, dass man selbst in den Städten die Luft wieder atmen kann, dass die Flüsse nicht mehr giftig sind, dass Autos weder Krach machen noch stinken und dass wir nicht mehr abhängig sind von Diktatoren und deren Ölvorkommen. Da würden wir uns schön ärgern.“ (Marc-Uwe Kling)
„Die Menschen müssen begreifen, dass sie das gefährlichste Ungeziefer sind, das je die Erde bevölkert hat.“ (Friedensreich Hundertwasser)
„Es reicht nicht aus, den Krieg zu gewinnen. Es ist wichtiger, den Frieden zu organisieren.“ (Aristoteles)
Jede Kanone, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die hungern und nichts zu essen bekommen, denen, die frieren und keine Kleidung haben. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiß ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder. (Dwight D. Eisenhower)